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Rauchzeichen. Hütte des Japaners Shinro Othake in den Karlsauen. Foto: Uwe Zucchi, dpa

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Kultur: Nüsse und Muscheln

In der Karlsaue und in der Orangerie kommen Kunst und Natur einander gefährlich nahe.

Ihre Documenta solle ruhig den Eindruck des Unvollständigen erwecken, hat Carolyn Christov-Bakargiev den Journalisten in der Pressekonferenz auf den Weg gegeben, den des Mangels, auch des Unbehaglichen. Die Urteilskraft solle außer Kraft gesetzt werden. Das ist eine ermutigende Vorgabe für den ersten hastigen Vorstoß per Fahrrad in die Weiten der Karlsaue, der unvollständig bleiben muss.

In der Orangerie hat sich die Documenta in die technische Sammlung eingefügt. So wurden dem frühen Computermodell Z11 des Erfinders Konrad Zuse dessen Ölbilder, Aquarelle und Zeichnungen gegenüber gestellt, die zwischen 1926 und 1967 entstanden und an Lyonel Feininger erinnern. Hier begegnen sich die kosmische Offenheit malerischen Denkens und die digitale 0/1-Logik der Computer, gegen deren gewachsene Vorherrschaft diese Documenta antritt, um den Tieren und den unbelebten Dingen ihr Recht und ihre Sprache zurückzugeben – wie in der fantastisch wirkenden Außeninstallation des derzeit gerne mit Insekten arbeitenden Pierre Huyghes. Der Kopf einer Frauenskulptur ist mit einem runden Bienenstock umhegt, durch die umliegenden Erdhügel streift ein Hundehüter mit zwei spanischen Windhunden, von denen einer ein pinkfarben bemaltes Bein hat.

Nach den Ausstellungen der letzten Jahre, die wie die 5. Berlin-Biennale das Erbe der Moderne befragten und als bereits historische Epoche zeigten, geht die Documenta einen Schritt weiter – ins Ungewisse. In seinem Buch „Wir sind nie modern gewesen“ beschreibt der Soziologe Bruno Latour die Moderne als komplexen Verfassungsvertrag, der die unbelebten Dinge der Ausbeutung preisgab, indem er ihnen die Handlungsmacht absprach. Was ist obskurer: die Vorstellung, dass, wie die Naturwissenschaften annahmen, Dinge im Labor ihre Natur quasi von selbst enthüllen – oder dass, wie die Animisten und die Kuratorin Christov-Bakargiev glauben, alle Materie belebt ist und im Austausch steht?

Der Senegalese Issa Samb bastelt am Eingang der Karlsaue an einer Installation, die das In- und Gegeneinander der Weltreligionen symbolisieren soll. Ein langes Holzkreuz lehnt in einem Baum, Puppen wehen im Wind, ein großes Kleid symbolisiert die Wunderheilerin Ndate Diagne. Muscheln erinnern an die erste Währung des Senegals, bevor die Kolonialisten kamen.

Deren Welteroberung liegt die selbe rationale Ordnung zugrunde wie der barocken Gartenanlage der Karlsaue, in der die Künstlerpavillons wie Gartenhäuschen verstreut sind. In einem Gewächshaus zeigt Jimmy Durham den Keil eines Neandertalers neben einer Kugel aus dem 20. Jahrhundert, begleitet von einem Text, der die Geschichte der europäischen Zivilisation in einer simplifizierenden Sprache erklärt, wie man ihr in ethnologischen Museen begegnet. An die Angehörigen welcher Zivilisation könnte diese Tafel gerichtet sein? Jedenfalls nicht an einen Menschen der Moderne, und so öffnet sich diese Ausstellung in Vergangenheit und Zukunft und entfaltet tatsächlich stellenweise die Wirkung einer archäologischen Grabungsstätte – am deutlichsten in den riesigen Betonabgüssen von Glocken und Zahnrädern, die Adrián Villar Rojas über den Weinberg der Karlsaue gestreut hat.

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