zum Hauptinhalt
Eine Sammlung unwillkürlicher Selbstgespräche.„Empfänglich sein ist alles“ und andere Weisheiten. Notizbuch vom Ende Juli 2010.

© Chris Korner/DLA Marbacg

Notizbücher von Peter Handke: Mein Zuhause sind die Farben

Zwischen Schrift und Bewusstsein: Ein prächtiges Marbacher Magazin erkundet die Welt von Peter Handkes Notizbüchern

Von Gregor Dotzauer

Im Halbrund aufgestellt, aneinandergelehnt und übereinandergestapelt, wie das Deutsche Literaturarchiv Marbach die 221 Notizbücher im vergangenen Oktober präsentierte, handelt es sich um ein Ehrfurcht gebietendes Textgebirge. Seine 33 000 Seiten, die Peter Handke von 1975 bis 2015 an insgesamt 14 600 Tagen anfertigte, ragen auch vor treuen Lesern als weitgehend unerschlossenes Massiv auf. Die Journale, die ihren Weg sorgsam ausgewählt aus der Kladde ins Buch fanden, „Das Gewicht der Welt“ oder zuletzt „An der Baumschattenwand nachts“, geben zwar einen Eindruck von Ton und Gehalt dieser Aufzeichnungen. Doch ihren besonderen Charakter gewinnen sie daraus, dass sie in ihrer Unkonzentriertheit eben nicht das Werk wollen, sondern das ewige Wuchern und die ewige Vorläufigkeit.
Ihr Ideal ist die permanente Weltmitschrift aus den Augenwinkeln heraus, leicht errungen und gedanklich noch nicht ausgehärtet. Gerade in dieser nach einer unmöglichen Totalität strebenden Summe verlieren die Notizbücher ihren Schrecken. Man könnte auch sagen: Sie mussten in dieser Vollständigkeit geschrieben werden – sie müssen nur nicht in dieser Vollständigkeit gelesen werden. Mit ihren das Ungestalte in eine unreine Form rettenden Wahrnehmungsexerzitien machen sie sich selbst überflüssig.
Die schönste Abkürzung durch ihre vielstimmigen Unendlichkeiten bietet jetzt ein von Ulrich von Bülow herausgegebenes Marbacher Magazin. Mit Faksimiles reich illustriert, macht es ein Projekt so sinnlich wie intellektuell begreiflich, das den Schriftbesessenen und Zeichner in seinen wichtigsten Facetten zeigt: den Naturbeobachter, der das Nebensächliche zu den Hauptsachen erklärt. Den im Halbdämmer Traumspuren festhaltenden Diaristen. Und den zwischen dem Streuobst seines Bewusstseins gezielt Lesefrüchte auflesenden Protokollanten.

Sanftes Gebirge. Handkes 221 von Marbach erworbene Notizbücher.
Sanftes Gebirge. Handkes 221 von Marbach erworbene Notizbücher.

© Chris Korner/DLA Marbach

Natürlich sind die Notizbücher auch das Labor der Romane, aber eher im Sinne einer Einübung in ein Erzählklima als in einer Skizze des noch Auszuführenden. Ulrich von Bülows einführender Essay in Handkes Selbstkultivierungstechniken ist in seiner Kürze und Dichte ein Glanzstück des Bandes. Erhellend auch die Abschrift eines öffentlichen Gesprächs, das Handke und von Bülow zur Erwerbung der Notizbücher am 18. Oktober 2017 in Marbach führten. Der Autor gibt darin selten aufgeräumt Auskunft über seine Entwicklung.
Unter anderem klärt er die Bedeutung des Kürzels „U. S.“, das für „unwillkürliches Selbstgespräch“ steht. „Ich denke manchmal irgendetwas, und das ist in dem Moment derartig blöd, manchmal wie von Karl Valentin“, erklärt Handke. „Zum Beispiel: ,Ich wundere mich über gar nichts mehr.‘ Und dann sage ich mir: ,Dann lass dich doch gleich begraben.‘ Das ist überhaupt kein Gedanke, das ist ein unwillkürliches Selbstgespräch.“
In weiteren Essays widmet sich Ulrich von Bülow Handkes „Heidegger-Lektüren“ und den „Spinoza-Lektüren“. Vor allem der letztgenannte Aufsatz leistet Pionierarbeit. Er weist nach, wie Spinozas „Ethik“, ein umfassender, vom Ontologischen bis zum Erkenntnistheoretischen reichender philosophischer Entwurf, der Gott und Natur in eins setzt, Handkes 1979 mit „Langsame Heimkehr“ einsetzende Tetralogie zu prägen begann. Auch „Das stehende Jetzt“, der Titel des Marbacher Bandes, geht auf jene Zeit zurück. In seiner lateinischen Variante „Nunc stans“, die das Zusammenfallen von Moment und Ewigkeit meint, erprobte er den von ihm eigenwillig interpretierten Begriff in seinen Notizbüchern, ehe er 1980 in die ersten Sätze der „Lehre der Sainte-Victoire“ Eingang fand. „Einmal bin ich in den Farben zu Hause gewesen“, heißt es da. „Naturwelt und Menschenwerk, eins durch das andere, bereiteten mir einen Beseligungsmoment, den ich aus den Halbschlafbildern kenne, und der Nunc stans genannt worden ist.“
Das Nunc stans ist bis heute das beste Mittel, den Grundwiderspruch von Handkes Projekt, vielleicht sogar aller Kunst, aufzulösen: nämlich ein Sehen, das sich erst im Schreiben verwirklicht – und dadurch der Welt bereits als etwas Anderes, für immer Fixiertes gegenübertritt. So, wie die angehaltene Zeit in den Strom der Dinge zurückfließt, um von Neuem angehalten zu werden, geschieht es auch mit dem objektivierten Satz und dem lebendigen Bewusstsein.
Das stehende Jetzt. Die Notizbücher von Peter Handke. Gespräch mit dem Autor und Essays von Ulrich von Bülow. 152 S., 18 €. Bestellung: www.dla-marbach.de

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false