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Der Anschlag auf der Insel Utøya in Norwegen, hier wenige Tage danach, löst ein Trauma bei der Protagonistin aus.

© Jörg Carstensen/EPA/dpa

Norwegischer Roman „Vater, Mutter, Kim“: Der Schmerz des Verlusts

Unaufgeregt und mit großer Genauigkeit erzählt Eivind Hofstad Evjemos vom Trauma einer Frau, ausgelöst durch den Anschlag auf der Insel Utøya.

Die Geschichte fängt da an, wo sie sonst endet. Das Unfassbare ist geschehen, und „von oben betrachtet sieht es aus, als sei gar nichts passiert“. Der 22. Juli 2011, das 9/11 Norwegens, jener Tag, an dem der Rechtsextreme Anders Behring Breivik 77 Menschen brutal erschoss, hat in der skandinavischen Literatur bereits eine ganze Reihe von Werken hervorgebracht: Man spricht sogar von einem eigenen Genre namens „22“.

Doch Eivind Hofstad Evjemos Roman „Vater, Mutter, Kim“ widmet dem Täter keine Zeile, und auch die Familie, deren Tochter bei dem Attentat ums Leben gekommen ist, bleibt im Hintergrund. Hingegen blickt er direkt ins Gemüt von Sella, der Nachbarin. Anfangs lässt sich noch nicht ahnen, dass man es mit einem Ableger der Trauer zu tun hat, wenn Sella ein ums andere Mal Hefegebäck in den Backofen schiebt, das sie den Nachbarn als Zeichen ihrer Anteilnahme vorbeibringen möchte.

Der Leser überlegt mit: Was ist der richtige Moment, was sind die richtigen Worte, um Menschen, die man nur vom Sehen kennt, nach so einem Schicksalsschlag entgegenzutreten?

Zimtbrötchen in der Tiefkühltruhe

Sella findet sie nicht. Unmengen an Zimtbrötchen landen in der Tiefkühltruhe. Erst nach mehreren Rückblenden dämmert einem, dass dieses Kreisen um das Unglück der Nachbarn auch aus der eigenen Geschichte rührt. Sella weiß, wovon der Vater des ermordeten Mädchens spricht, wenn sie ihn im Radio sagen hört: „Trauer ist wie ein schwer zu ruderndes Boot.“ Sie selbst hat den Verlust ihres Adoptivsohns Kim erlebt. Mit dem Tod der Nachbarstochter erwacht das Trauma wieder.

Der in Oslo lebende Autor, Jahrgang 1983, nimmt mit diesem Spiel über die Bande Abstand vom kollektiven Entsetzen und richtet den Blick auf einen individuellen Schmerz, der beide eint. Mit großer Genauigkeit begibt er sich mit seinem dritten Roman in emotionale Krater, in denen sich doch auch ein Grashalm grüner Hoffnung gen Himmel reckt. Denn neben der sich aufbauenden Beklemmung wächst mehr als ein Gefühl von Verlust.

Adoption und Entfremdung

Es wächst auch eine Kraft, die aus dem koordinatenlosen Weiterrudern im lecken Boot kommt. Eine Stärke, die sich gerade dort zeigt, wo das Wasser steigt. Evjemos ruhiger Blick streift im Erzählen Themen im Familiengeflecht, die von Adoption über Entfremdung bis hin zum Entdecken einer neuen Art von Liebe nach vielen Jahrzehnten der Ehe reichen. Die Beziehung Sellas zu ihrem Mann Arild, die sich über die Jahre zu einer komplexen Verbindung verflicht, wird von vorn aufgerollt.

Beide verarbeiten nicht nur das gemeinsame Joch auf ihre Weise. Sie entdecken sich auch gegenseitig als Verbündete auf einem Weg, dessen Verlauf sich beide anders erträumt haben und von dem über die Zeit offenbar wird, dass niemand ihn fortführen wird. Die unaufgeregte Erzählweise des Autors lässt dabei keine Sentimentalitäten zu und erzeugt gerade so zuverlässig ihre Wirkung.
Eivind Hofstad Evjemo: „Vater, Mutter, Kim“. Roman. Aus dem Norwegischen von Karl Clemens Kübler und Clara Sondermann. Luftschacht Verlag, Wien 2019. 274 S., 24 €.

Lucia Schöllhuber

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