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Tradition in Belfast. Wandbilder, die die Paramilitärs verherrlichen. In diesem Fall protestantische.

© Reuters

Nordirland-Erzählung "Milchmann": Atomjunge und Tablettenmädchen

Anna Burns beschreibt in ihrem packenden Roman „Milchmann“ den Nordirland-Konflikt als Sandkastenspiel der Macho-Krieger.

Diese Erzählung ist so dicht, dass keine Zeit für Atempausen bleibt. 450 Seiten grob unterteilt in sieben Kapitel, das muss als Struktur reichen. Absatzlose Seiten sind keine Seltenheit. Ein stilistisch beeindruckender, peinigend intensiv zu lesender Fluss aus Gedanken, Beobachtungen, Erinnerungen ergießt sich über das Papier.

Die Atmosphäre in der namenlosen Stadt, von der man irgendwann begreift, dass sie Belfast heißt, ist aufgeheizt. Die Protagonistin kaschiert ihre Panik, ihre Verletzungen nach Teenagerart, also mit lakonischer Pampigkeit.

Jede Familie zahlt Blutzoll

Bombenexplosionen reißen Katzen und Menschen in Stücke. Jede Familie zahlt Blutzoll. Spitzelei und Verrat sind allgegenwärtig. Auch die 18 Jahre alte, namenlose Heldin wird gleich zu Beginn von Anna Burns Roman „Milchmann“ damit konfrontiert: „Der Tag, an dem Irgendwer McIrgendwas mir eine Waffe auf die Brust setzte, mich ein Flittchen nannte und drohte, mich zu erschießen, war auch der Tag an dem der Milchmann starb. Er wurde von einem staatlichen Mordkommando erschossen, und der Tod dieses Mannes war mir herzlich egal.“

Der sogenannte Milchmann ist ein hohes Tier unter den Paramilitärs, die das katholisch-nationalistische Arbeiterviertel beherrschen. Eine Art Pate, der unsichtbar die Strippen zieht, alles über jeden zu wissen scheint und seine Macht gegenüber jungen Frauen in sexualisierte Gewalt ummünzt.

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Mit Männern dieses Schlages ist die 1962 in Belfast geborene und jetzt in England lebende Autorin vertraut. Sie bevölkerten 2001 schon ihren Erstling „No Bones“, in dem sie das Aufwachsen im Ardoyne-Distrikt von Belfast während der „Troubles“ genannten Konflikte bevölkert.

Für „Milchmann“, der zwei nicht näher datierte Monate in den siebziger Jahren erzählt, wurde Anna Burns 2018 mit dem Man-Booker-Preis ausgezeichnet, als erste Nordirin überhaupt.

Ihr hellsichtiger Roman ist nicht einfach eine manchmal ins Surreale und in schwarzen Humor kippende Parabel auf die Mechanismen totalitärer Gesellschaften. Sondern vor allem die Darstellung eines Bürgerkriegs als perversem Machotheater. „Und auch sonst war es für keine Frau, die gerade vor die Tür trat, angenehm, sich das stete Tropfen sexueller Bemerkungen anhören zu müssen, von diesen Stelzböcken mit geschmacklosen Anzüglichkeiten provoziert zu werden. ,Deine Kiste‘, sagten sie, ,deine Dose‘.“

Der große Hass der Siebziger

Den Sandkastenspielen der machtbesessenen britischen und irischen Krieger fallen nicht nur Mütter, Schwestern und Ehefrauen zum Opfer oder positionieren sich als Verbündete des militaristischen Kults. Sondern auch nervenschwache Männer wie der depressive Vater der Ich-Erzählerin, für den sich die stets nur „Ma“ genannte Mutter schämt. „Da war Hass. Großer Hass, der große Hass der Siebziger“, beschreibt Burns das vergiftete Klima.

Geboren in Belfast. Booker-Preisträgerin Anna Burns, Jahrgang 1962.
Geboren in Belfast. Booker-Preisträgerin Anna Burns, Jahrgang 1962.

© Eleni Stefanou

Die Frauen sind das schwächste Glied in einer repressiven Kette, die mit der Staatsmacht und ihren Feinden beginnt. Ihre weibliche Rolle ist schon durch den Kinderreichtum der konservativen katholischen Familien definiert. Die Erzählerin nennt sich „Mittelschwester“ und entlastet Ma bei der Betreuung der Kleineren.

Milchmann, Irgendwer McIrgendwas, Atomjunge, Chefkoch, Vielleicht-Freund, Tablettenmädchen, Zehnminuten-Gegend – so lautet ihr Vokabular, dessen kodierter Inhalt sich erst mit der Zeit erschließt. Sozusagen parallel zur Zerstörung von Mittelschwesters Ruf durch die vom Stadtviertelfunk aufmerksam registrierten und zur Affäre aufgebauschten Nachstellungen des Milchmanns.

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Den Keim des Unheils legt Mittelschwester selbst. „Ich las oft im Gehen. Das war für mich nichts Ungewöhnliches, und doch sollte es ein weiteres Indiz zu meinen Lasten werden. Lesen im Gehen war eindeutig verdächtig.“ Die trotzig auf Individualität und Distanzierung pochende Marotte zerstört ihren Ruf gründlicher als die angebliche Affäre und lässt sie als eine der „Übergeschnappten“ des von paranoider sozialer Kontrolle gezeichneten Quartiers gelten.

Zumal sie sich aus der unerträglichen Gegenwart des 20. Jahrhunderts zurück ins 19. flüchtet und ausschließlich Klassiker wie „Jane Eyre“ und „Ivanhoe“ liest. Als übergeschnappt gilt im Viertel übrigens auch der Begriff „Feministin“, der durch die umgehend als „Spionageagentinnen“ bekämpfte Gründung einer Frauengruppe in den Fokus der Paramilitärs rückt. Und: „Das Wort ,Frau‘ schrammte nur knapp daran vorbei.“

[Anna Burns: Milchmann. Roman. Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll. Tropen, Stuttgart 2020, 452 S., 25 €]

Und trotzdem sind auch die „normalen“, „traditionellen“ Frauen keineswegs nur passive Dulderinnen. Die bestens vernetzte Haus-Macht hält den alltäglichen Laden am Laufen, flickt versehrte Möchtegernhelden zusammen, verdrischt Eindringlinge auf der Damentoilette und vor allem übt sie erfolgreich Druck auf die eigenen, mafiös organisierten Jungs aus.

Deren Überleben als bewaffnete Guerilla in der eng zusammenhaltenden antistaatlichen Gemeinschaft hänge schließlich von der Unterstützung aller Mitglieder ab, wie die manchmal für ihr Alter ein wenig überschlau daherredende Erzählerin analysiert.

Dass mit dem Tod von Milchmann auch ein Waffenstillstand zwischen Mutter und Tochter einhergeht, lässt sich in Anna Burns wütender Coming-of-Age-Geschichte als warmer Regen der Hoffnung lesen, der zischend auf verbrannte nordirische Erde fällt.

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