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Was von der Flut übrig blieb: Der Bahnhofsvorplatz in Kall

© picture alliance/dpa

Norbert Scheuer, Kall und die Flut: Erst die Euphorie des Aufräumens, jetzt Lethargie

Norbert Scheuer hat die Eifelgemeinde Kall zu einem literarischen Ort gemacht. Nach der Flut ist hier nichts mehr, wie es einmal war.

Als im Sommer dieses Jahres nach tagelangen Regenfällen in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz die Flüsse über ihre Ufer traten und es zu starken Überschwemmungen kam, war auch die Gemeinde Kall in der Nordeifel schwer davon betroffen.

Kall ist wie so viele Ortschaften in der Eifel eher unbekannt und von keiner größeren überregionalen Bedeutung, hat aber seit einiger Zeit in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur einen festen Platz: Der Schriftsteller Norbert Scheuer, der an diesem Donnerstag 70 Jahre alt wird, wohnt nicht nur in einem Ortsteil dieser Gemeinde, in Keldenich, sondern hat Kall in seinen Büchern zu einem literarischen Ort gemacht und noch einmal neu erfunden.

„Kall, Eifel“ heißt eine frühe, betont an Sherwood Andersons „Winesburg, Ohio“ angelehnte Erzählsammlung von Scheuer mit Geschichten von Bewohnern aus Kall. Der Schriftsteller selbst hat seine Romanwelt einmal als „ein Mosaik aus Ortschaften, Landschaften und den Leuten der Eifel“ bezeichnet.

Auch sein jüngster, 2019 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis platzierter und mit dem Wilhelm-Raabe-Literaturpreis ausgezeichneter Roman „Winterbienen“ beginnt in dem in seinem Kern fünftausend Einwohner zählenden Kall.

Egidius Arimond, der Tagebuch schreibende Held des Romans, stellt das „Bergarbeiterstädtchen“ in einem undatierten, aus den Jahren 1944 oder 1945 stammenden Eintrag vor. Arimond erzählt, wie er fortging und wieder zurückkehrte in diese „verlassene, karge Region“, wie er hier die Bienenzucht seines Vaters übernahm und dass er eigentlich wieder fortwill, wenn der Krieg vorbei ist. Zuversichtlich ist er nicht: „Womöglich werde ich für immer hierbleiben müssen.“

Feiert am Donnerstag, den 12.12..seinen 70. Geburtstag: Norbert Scheuer.
Feiert am Donnerstag, den 12.12..seinen 70. Geburtstag: Norbert Scheuer.

© Elvira Scheuer

Scheuer ist für immer in der Eifel geblieben. Er wurde in Prüm in der Westeifel geboren, als Sohn eines Ehepaars, das eine Konditorei und Gaststätte betrieb und nach deren Schließung in verschiedenen Städtchen der Eifel Gaststätten pachtete. Für ihn hat sich in Kall-Keldenich ein Lebenskreis geschlossen, seit gut dreißig Jahren lebt er hier.

Während der starken Regenfälle saß er im Arbeitszimmer seines Hauses, um an einem neuen Roman zu schreiben. Der spielt natürlich wieder in Kall. Eine der Hauptfiguren, auch das ist ein Merkmal dieses literarischen Eifelkosmos mit häufig wiederkehrenden Figuren, kennt man aus anderen Scheuer-Romanen: Der aus Griechenland stammende Evros schreibt in diesem Roman andauernd griechische Mythen auf einen Bierdeckel und vermischt sie mit Geschichten aus dem „Urftland“, wie die Gegend um Kall auch heißt.

Das klingt etwas großspurig, weil die Urft eher ein Bach als ein reißender Strom ist.

Scheuer wurde wegen der Flut aus seiner Arbeit gerissen und versuchte, wo es ging, Hilfe zu leisten. Keldenich liegt am Rand von Kall, vierhundert Meter höher als der Ortskern von Kall, das Haus der Scheuers blieb verschont. Er verfasste jedoch einen Erfahrungsbericht für die „Süddeutsche Zeitung“.

Dieser begann mit einem Verweis auf seine Bücher – was wiederum viel davon verrät, wie Scheuer arbeitet, wie er sein literarisches Universum baut.

Eine Tote sei in Rotterdam angespült worden

Er habe in einigen Romanen beschrieben, so Scheuer in der „SZ“, „wie sich das Eis an der Brücke staut und Dörfer im Wasser verschwinden, wie alte Frauen in Betten den Fluss hinabtreiben, wie Kühe, Ziegen und Heuwagen fortgerissen werden, wie ein Staudamm bricht und Kall einfach fortgespült wird, wie die alten Männer aus der Cafeteria des Supermarkts sich auf dem Flachdach in Sicherheit bringen und von dort zusehen müssen, wie ihre Autos auf dem Parkplatz von den Fluten der Urft mitgerissen werden, wie (…) das ganze Tal mit einer braunen Flutwelle überschwemmt wird."

Tatsächlich finden sich diese Stellen in anderen Zusammenhängen in den Romanen von Scheuer: als Geschichten aus ganz früheren Zeiten, die sich die Figuren erzählen. Oder, wie im Fall der alten Männer, als Folge der Errichtung eines künstlichen Staudamms. Im Nachhinein wirkt das geradezu prophetisch.

Das allerdings fand Scheuer damals in einer an ihn gerichteten Mail doch etwas abwegig. Ganz unter dem Eindruck der Wasserfluten und Zerstörungen stehend schrieb er zurück, dass er sich „nicht dauernd einreden“ könne, „dass die ganze Welt in Kall ist – vor allen Dingen jetzt, wo alles weggespült ist und man sich nirgendwo mehr hinsetzen kann, um einen Kaffee zu trinken, nicht mal mehr auf die Terrasse des Supermarktes.“

Dieser Rewe-Supermarkt am Bahnhof in Kall, ein typisch hässlicher Flachbau-Kasten mit einem angeschlossenen Café, war ein zentraler Ort für Scheuer. Hier ging er hin, um sich Notizen zu machen, um zufällige Bekanntschaften zu knüpfen, um die Menschen bei ihren Einkäufen und anderen alltäglichen Verrichtungen zu beobachten.

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Das Café des Supermarkts wurde zu einem der Schauplätze seines Romans „Am Grund des Universums“ – und die Stammgäste, ebenjene Gruppe von älteren, meist berenteten Männern zu Roman-Hauptfiguren, zu einem verlängerten Arm des Erzählers gewissermaßen: „Die Grauköpfe sind eine fünf- bis zehnköpfige Hydra, der nichts entgeht, die immer dort ist, wo in Kall und Umgebung gerade etwas abgerissen oder gebaut wird, sie wissen über alles Bescheid.“ Mit der Flut hatten die „Grauköpfe“ und damit auch Scheuer ihren Beobachtungsposten verloren, nachdem die Pandemie die Verhältnisse schon durcheinandergewirbelt hatte.

Doch gibt es zumindest in diesem Fall Positives zu vermelden, wie man bei einem Anruf bei Scheuer in Erfahrung bringt. Just an diesem Dienstag habe der Supermarkt wieder geöffnet, erzählt er. Und schon Monate zuvor sei die Cafeteria renoviert und in Betrieb genommen worden, „da hatten auch die Grauköpfe ihre Stammplätze wieder eingenommen“. Als er das sagt, gibt er nicht genau zu erkennen, ob dem wirklich so war – oder ob man in einem seiner vielen fiktiven Räume gelandet ist.

Denn sogleich fügt er an: „Die Grauköpfe haben mir von einem Liebespaar erzählt, das nach der Flut im Auto gefunden wurde, von Kühen die unter dem Treibgut verwesen, und wie sie an der Brücke standen, wo das Technische Hilfswerk ein Auto aus dem Fluss hob, von einer Frau, die noch immer verschwunden ist.“

Der Bahnhof in Kall ist außer Betrieb

Auf die Nachfrage, woher er das weiß, ob ihm die Männer im Café wirklich davon berichtet hätten, antwortet er, dass genau solche Geschichten im Umlauf seien. Er lacht aber auch und fragt zurück: „Was ist schon wahr?“ Und erzählt noch eine Geschichte, die er gehört habe: von einer Toten aus Kall, die in Rotterdam aus dem Wasser gezogen worden sei. „Wie ist das möglich, wie verläuft da eigentlich die Spur des Wassers? Und was ist das überhaupt für eine Tragik?“

Scheuer wirkt durchaus fassungslos, noch entsetzt über das, was in Kall passiert ist. Von einer Normalität früherer Zeiten sei die Stadt weit entfernt. Die ganze Infrastruktur sei dahin, genau wie der Tourismus, der ja während der Pandemie noch einmal zugenommen hatte. „Sie müssen sich Kall vorstellen wie eine alte verlassene Goldgräberstadt. Nur dass keine vertrockneten Büsche durch die einzige verlassene Einkaufsstraße wehen, stattdessen Papier und Plastikfetzen und weggeworfene FFP2-Masken. Die einzigen bunten Tupfer sind diese farbigen chirurgischen OP-Masken.“

Auch der Bahnhof in Kall ist weiterhin außer Betrieb. Scheuer sagt, es würde noch Monate dauern, bis man von Köln wieder nach Kall fahren könne, und bis ins Jahr 2023, dass die gesamte Eifelstrecke von Köln nach Trier wiederhergestellt sei.

"Die Flüsschen plätschern wieder unschuldig"

Er beschreibt ein bizarres Durcheinander am Bahnhof und in der weiteren Umgebung: „Die Schienen sehen aus, als hätte ein wild gewordener Riese damit gespielt.“ Und fügt an: „Aber die kleinen Flüsschen, die plätschern schon wieder unschuldig mäandernd durch die Landschaft.“

Wer schon einmal vor Ort war, weiß, dass Kall mit seinen Nachkriegsbauten, Vorort-Eigenheimen und Gewerbegebieten nie ein Sehnsuchtsort gewesen ist. Auch vor der Flut und der Pandemie hat hier die überkommene bundesrepublikanische Tristesse der sechziger und siebziger Jahre vorgeherrscht, BRD noir; nur die Schönheiten der Natur sorgten für einen gewissen Ausgleich.

Doch Scheuer empfindet die Tristesse jetzt als „unübertroffen“, weil es so gut wie kein Geschäftsleben mehr gibt, die Post, die Bank, alles entlang der Urft geschlossen sei. Auch die Stimmung scheint sich gewandelt zu haben, „die Euphorie des Aufräumens nach der Katastrophe“ sei „einer langen Lethargie gewichen: Die versprochene Hilfe ist ausgeblieben oder zu spät gekommen, viele Leute sind weggezogen."

Am Ende sagt Norbert Scheuer noch, nicht ohne eine Einladung in das plötzlich so veränderte Kall ausgesprochen zu haben: „Manchmal glaube ich, dass Kall, so wie es einmal war, nur noch in der Wirklichkeit meiner Romane existiert.“

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