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Kultur: Nomadisch

„Dickicht“: Gedichte von Ulrike Almut Sandig

Man muss sich die Sehnsuchtsreisenden in Ulrike Almut Sandigs Gedichten als glückliche Menschen vorstellen. Die „Mitte der Welt“, zu der sie aufgebrochen sind, ist zwar unerreichbar. Was ihnen aber bleibt, ist das fortdauernde Nomadisieren, das sie aus allen Bedrückungen herausführt ins Offene. Es ist eine permanente „Übung fürs Wegsein“, wie es der Titel eines Gedichts formuliert. Zur Antriebskraft dieser Reisenden wird das ständige Unterwegssein, das Eintreten in einen Transitraum, in dem sich die Identität des Ich auflösen kann.

Dieses Ortlos-Werden hat die 1979 geborene Autorin bereits in dem vielgelobten Band „Streumen“ als ihre originäre Gangart vorgeführt. Die Traumpfade ihrer Gedichte führen auch in ihrem neuen Band „Dickicht“ wieder ins Ungewisse. Diesmal hat Sandig ihre lyrischen Aufbruchsbewegungen kartografiert und die einzelnen Kapitel ihres Buches bestimmten Himmelsrichtungen zugeordnet. Diese Richtungssignale werden in den Gedichten jedoch gleich wieder aufgelöst und die Bewegungen des Ich in schwebende Konstellationen verwandelt. Dem Süden als Sehnsuchtslandschaft, dessen rauschhafte „Wallungswerte“ dereinst Gottfried Benn beschwor, wird demonstrativ eine Absage erteilt: „ich will nie wieder von hier weg! verschwinde nicht / wie die Anderen. geh nicht nach Süden. dort ist nichts /grüner als hier.“ Die Kompassnadel der Gedichte zeigt nach Norden, auch wenn diese Himmelsrichtung verdunkelt scheint von Erfahrungen des Abschieds und der Trennung.

Ulrike Almut Sandig hat einen ganz eigenen Ton gefunden, der zwischen Kinderlied, romantischer Märchenmelodie und zarter Fantastik changiert. Hier ist es wieder zu hören, das trancehafte Murmeln, somnambule Flüstern und traumversunkene Beiseite-Sprechen, das bereits den Band „Streumen“ kennzeichnete. Die romantisierenden Topoi werden durch Bilder des Unheimlichen konterkariert – damit das Gedicht seine Balance zwischen utopischem Wunschbild und alltäglicher Desillusionierung bewahrt. Suggestivität erreicht diese Art des Sprechens immer dann, wenn die Autorin die allzu naheliegenden romantischen Topoi – z.B. „Wind“, „Licht“ oder „Blauglockenbaum“ – auf Distanz hält und im Naturschönen plötzlich ein Moment der Bedrohung aufblitzt: „täglich schiebt sich der Norden (Äquator) näher heran. /in der Luft liegen Falken und spähen im Halbschlaf /nach Schatten, nach Tauben, Leichtmetall, Glück. //unter den Böen knacken die ältesten Türme, jüngere / schwanken fast nicht berechenbar: grashaft. gezielt.“ Michael Braun

Ulrike Almut

Sandig:
Dickicht.

Gedichte. Schöffling & Co, Frankfurt a.M. 2011. 80 Seiten, 16,95 €.

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