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Pionierin in der Natur. Noa Wertheim hat sich für ihre Familie und ihre Tänzer ein eigenes kleines Dorf gebaut.

© Elad Debi/Movimentos

Noa Wertheim beim Movimentos-Festival: Die Kraft aus dem Konflikt

Israel, das Land der Tänzer: Noa Wertheim gastiert mit der Vertigo Dance Company beim Movimentos-Festival Wolfsburg. Ihr Credo lautet: „Ich erfinde nichts, ich erkunde nur das, was bereits existiert in unserem Körper."

Von Sandra Luzina

Von Tel Aviv aus fährt man eine knappe Stunde bis ins Elah-Tal. Im Frühling sprießt überall frisches Grün. Die Choreografin Noa Wertheim hat hier mit ihrem Mann Adi Sha'al und ihren drei Schwestern vor zehn Jahren ein Eco Art Village gegründet. Vom Kibbuz Netiv Halamed-Heh haben sie ein Stück Land gepachtet. Ein ehemaliger Hühnerstall wurde in ein Tanzstudio umgewandelt.

Hier probt die Vertigo Dance Company, die das Paar vor 25 Jahren gegründet hat und die heute eine der führenden Tanzkompanien Israels ist. Das Village zieht Studenten aus aller Welt an, und auch die Kinder aus der Nachbarschaft kommen zu Tanzkursen hierher.

Wo David Goliath bezwang

Noa Wertheim sitzt im Garten bei den blauen Lupinen und lässt den Blick schweifen. Sie zeigt auf einen Hügel: Dort soll David einst Goliath besiegt haben. „Wir sind Pioniere“, sagt sie und meint nicht nur ihren Kampf für eine nachhaltige Lebensweise. Wie die Choreografin die Umwelt-Pionierin und die Künstlerin in sich zum Einklang bringt, ist faszinierend. „Ich erfinde nichts, ich erkunde nur das, was bereits existiert in der Natur und in unserem Körper“, beschreibt sie ihren ganzheitlichen Ansatz. Die Choreografin hat eine Affinität zur jüdischen Mystik der Kaballah. Nun spricht sie über die Genesis, über mayim (hebräisch für Wasser) und shamayim (Himmel).

„Das erste Material, das existierte, war Wasser“, sagt sie. In „Yama“ (hebräisch für See), mit dem die Vertigo Dance Company beim Festival Movimentos in Wolfsburg gastiert, hat sie die Extreme des Wasser-Spektrums in körperliche Bewegungen übersetzt. Wasser, wenn es begrenzt wird, kann zur unkontrollierbaren Gewalt werden. Körper unter Druck, ein Kollektiv zwischen Freiheit und Zwang – das spannungsgeladene Stück eröffnet einen weiten Assoziationsraum.

Denn auch das Weltgeschehen hat Wertheim beeinflusst. Als sie „Yama“ vor zwei Jahren kreierte, hatte sie im US-Fernsehen mehrere Reportagen über den Islamischen Staat gesehen. In Israel werde ja nicht so viel über die Terrormiliz berichtet, erzählt sie. Sie sei schockiert gewesen, das habe sicher auch auf das Stück abgefärbt, das zu ihren dunkelsten gehört. Als politische Künstlerin versteht sie sich aber nicht. Doch dann kommt sie auf die Juden-Ghettos zu sprechen und auf die Palästinenser in den besetzten Gebieten. „Menschen in einer geschlossenen Zone“, stellt sie fest, „daraus entsteht immer eine Explosion.“

Bei ihr endete der Schwindel

In einer Szene sieht man, wie die Gruppe einem Tänzer mit Stöcken zu Leibe rückt und seine Bewegungen lenkt, als sei er eine Marionette. Willenlos lässt er sich dirigieren. Die Frage, ob wir wirklich eine Wahl haben im Leben, treibt Noa Wertheim in all ihren Stücken um.

Sie stammt aus einer religiösen Familie. Ihre Eltern sind gläubige Juden, keine Orthodoxen. Sie entschied sich relativ spät für eine tänzerische Laufbahn. Erst mit 21 Jahren begann sie ihre Ausbildung an der Rubin Academy of Music and Dance in Jerusalem, doch sie ist offenkundig eine Naturbegabung.

Die Geschichte, wie die Vertigo Dance Company zu ihrem Namen kam, erzählt dann ihr Mann. Adi Sha'al war zwei Jahre lang Pilot bei der israelischen Luftwaffe, daher kannte er das Phänomen des Schwindels. Als er dann Noa traf, hatte er wieder das Gefühl, dass der Boden unter seinen Füßen schwankt.

Kunst braucht Kontrollverlust

In ihrem ersten Duett „Vertigo“, das 1992 herauskam und gleich ein großer Erfolg wurde, kreisen die beiden so lange, bis sie die Kontrolle verlieren. Es gehe um die Kunst, den Schwindel in eine Beziehung zu überführen, sagt Adi Sha'al resümierend. Das Paar, das drei Söhne hat, hat anscheinend den Dreh raus. Die Company, die sie wenig später in Jerusalem gründeten, leiten sie gemeinsam, dort haben sie auch heute noch ihr Studio. Dort zeigte die Gruppe im Jerusalem Theater ihre jüngste Produktion „One, one & one“, bei dem die Bühne am Ende mit Lehm bedeckt ist. Vorher gab Noa Wertheim einer Gruppe von religiösen Studentinnen mit safrangelben Kopftüchern eine Einführung in das Stück. Dass auch die religiösen Juden sich für den Tanz öffneten, sei eine neue Entwicklung, freut sie sich.

Zum 25-jährigen Bestehen der Company hat das israelische Kulturministerium sie in der Förderung heraufgestuft. Sie sind jetzt in einer Reihe mit der Bathseva Dance Company, der Kibbuz Contemporary Dance Company und dem Israel Ballet. Die staatliche Unterstützung ist an Verpflichtungen geknüpft, so muss die Gruppe etwa neben den internationalen Gastspielen eine bestimmte Anzahl an Auftritten in Israel absolvieren.

Dem Spektrum des israelischen Tanzes hat Noa Wertheim eine ganz eigene Bewegungssprache hinzugefügt, die organisch, zugleich ungemein expressiv und energetisch ist. Sie vereint unterschiedliche Einflüsse, so sind etwa Anklänge an den israelischen Folkdance zu erkennen, und auch asiatische Techniken wie Tai Chi fließen ein. „Ich nutze die Schwerkraft“, lautet eines ihrer Prinzipien. Das lernen auch die Studenten von ihr: sich mit der Erde zu verbinden. Ihnen wird im Village auch ein ökologisches Bewusstsein eingepflanzt.

Energie muss raus

Wenn man sie fragt, warum der Tanz so stark ist in Israel, sagt sie: „Der Mix der Kulturen ist sehr bereichernd.“ Doch sie führt noch einen weiteren Grund an: „Das Verlangen, kreativ zu sein, ist deshalb so groß, weil wir in einer Konfliktzone leben. Wir brauchen das Körperliche, wir müssen die Energie loswerden, wir müssen so vieles ausdrücken.“

Diese Ausdruckswut spürt man auch bei der Vertigo Dance Company. In den Stücken geht es um die Spannung zwischen dem Individuum und dem Kollektiv, zwischen Mann und Frau – und um die Frage, welche Folgen unser Handeln hat. Jetzt, nach zehn Jahren der Plackerei, beginne sie das Leben im Eco Art Village zu genießen, sagt Noa Wertheim. Doch obwohl sie sich hier eine friedliche ökologische Umgebung geschaffen hätten, bewegten sie sich doch noch in der Matrix des modernen Lebens. Diese Widersprüche schreiben sich auch ihren Stücke ein. Weichgespülte Wohlfühl-Kunst mit Öko-Siegel entwirft sie jedenfalls nicht. Denn in ihr steckt auch eine Grüblerin. Lachend erzählt sie von ihrer Großmutter, die, wenn sie von der Schöpfung des Menschen sprach, immer ausrief: „Was ist da bloß schiefgegangen?“

Noa Wertheim empfindet manchmal wie ihre Oma. „Ich mag Menschen und bin jeden Tag mit vielen Leuten zusammen. Aber gleichzeitig zweifle ich an der menschlichen Natur.“

Das französische Ballet Preljocaj eröffnet die 15. Movimentos-Festwochen mit dem Stück „La Fresque“ an diesem Freitag. 21. April. Im Festival-Programm sind außerdem Israel Galván und Sidi Larbi Cherkaoui. Die Vertigo Dance Company zeigt Noa Wertheims Choreografie „Yama“ vom 4. bis 7. Mai. Weitere Movimentos-Termine unter www.movimentos.de

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