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Dein Name sei Mensch. Das heißt Roma in der Sprache Romanesk. Szene aus der Serie „Drom/The Journey“ (2016).

© Nihad Nino Pušija

Nihad Nino Pušija im Porträt: Von wegen fahrendes Volk

Seit 25 Jahren fotografiert Nihad Nino Pušija europäische Roma und ist dabei zum Aktivisten geworden. Jetzt sind die Fotos in Berlin zu sehen.

Irgendwas stimmt in diesem Bild nicht. Für einen ausgehungerten Straßenjungen eines Roma-Viertels, der von zwei mitfühlenden Polizisten in Uniform und in Zivil endlich mal wieder so richtig den Teller gefüllt bekommt, sitzt der Kleine viel zu manierlich am Tisch. Seine Kleidung ist sauber, der Rücken kerzengrade durchgedrückt, das Sandwich ruht grazil in der Hand. Von Gier, von Furcht keine Spur.

Der Fotograf der im tschechischen Brno beobachteten Szene lacht. Nach dem Bild aus der Ausstellung „So ist das bei uns. Bilder vernachlässigter Europäer“ in der Galerie im Körnerpark, erkundigten sich öfter Leute, sagt Nihad Nino Pušija. Und als er die Episode aus seiner 2016 und 2017 fotografierten Serie „Brno“ erläutert hat, ist auch klar, was nicht stimmt – der klischeebeladene Film im Kopf der Betrachterin nämlich. Da verbinden sich die Tatsache, dass Pušija seit 25 Jahren in ganz Europa Roma porträtiert, die Uniform-Aufschrift „Asistenz Prevence Kriminality“ und die Info, dass sie in einem „Ghetto“ genannten Stadtteil spielt, sofort zu einem Krimi der Armutsverwahrlosung.

Dabei ist nichts dergleichen zu sehen, stellt Pušija klar. Der Uniformierte gehört zu einer Art Roma-Kiezpolizei, die aus professionellen Musikern besteht und im Migrantenviertel von Brno präventiv und mediatorisch gegen Kriminalität arbeitet. Der Mann mit der Kruzifix-Kette ist der Onkel des Jungen. Der wiederum findet die Polizeistreife toll und besucht sie gern an ihrem Treffpunkt im Hof des Museums für Roma-Kultur – und bekommt den Teller voll Essen gepackt. „Wie alle Kinder in Südosteuropa, auch ich zu Hause in Bosnien“, amüsiert sich Pušija. Die erste Lektion in vorurteilsfreiem Betrachten seiner Fotos der seit Jahrhunderten stigmatisierten Roma ist gelungen.

Als in Bosnien Bürgerkrieg ausbricht, flieht er

Nihad Nino Pušija wurde 1965 in Sarajevo geboren, hat dort und in London als freier Fotograf gelebt und ist schließlich 1992 nach Ausbruch des Bosnien-Krieges nach Berlin gekommen. Als Geflüchteter, über die Balkanroute und mit dem Vorsatz, wieder nach London zu gehen, von wo ihn nur ein Job für die Agentur Reuters zurück nach Sarajevo gelockt hatte. Doch die Berliner Subkultur der Neunziger fasziniert ihn auch fotografisch so, dass er bleibt und später auch seine deutsch-bosnische Familie hier gründet.

Dass sich Pušija, der als Dokumentarist für die Neue Gesellschaft für Bildende Kunst und viele andere Berliner Galerien arbeitet, bei seinen freien Arbeiten als sozialdokumentarischer Fotograf versteht, zeigt ein schöner, parallel zur Neuköllner Ausstellung erschienener Bildband. „Down there where the spirit meets the bone“ (Peperoni Books/Lehmstedt) vereint Fotos aus 30 Jahren und zeigt neben dem künstlerischen Schwerpunkt der Roma-Fotografie auch Impressionen aus Ex-Jugoslawien, Bürgerkriegsszenen und großartige Schwarz-Weiß-Porträts von Dragqueens aus Berliner Clubs. Der Buchtitel zitiert ein Gedicht des US-Lyrikers Miller Williams, das in deutscher Übersetzung mit der Zeile beginnt „Habe Mitgefühl für alle, denen du begegnest“.

Im Hof des Museums für Roma-Kultur. Die im tschechischen Brünn aufgenommene Szene wurde 2017 aufgenommen.
Im Hof des Museums für Roma-Kultur. Die im tschechischen Brünn aufgenommene Szene wurde 2017 aufgenommen.

© Nihad Nino Pušija

Und zeige die Menschen – gerade die am Rand der Gesellschaft – so, dass sie sich selber wiedererkennen, möchte man da angesichts von Pušijas Bildern hinzufügen. Nicht stigmatisiert, nicht idealisiert. Pušijas Empathie schmeißt sich nicht ran und lässt auch mal Ironie zu. So wie beim Ausstellungstitel „So ist das bei uns“ oder der Fotogeschichte „Roma é Roma“. In der Slideshow, die aus zwölf digitalen, mit lustigen Denkblasen verzierten Fotocollagen besteht, erzählt ein in Rom lebender Sozialarbeiter von seiner Familie. Auch das Klischee vom falschen Krückenträger kommt darin ausnahmsweise vor.

Ich zerbreche diese Bilder

Sonst sind es genau solche sozialen, folkloristischen, exotischen Stereotype, gegen die sich Pušija wendet: „Ich zerbreche diese Bilder.“ Die Darstellung des in Europa rund zwölf Millionen Menschen zählenden, vielstämmigen, vielsprachigen, überaus heterogenen Volks fällt schon vor der Erfindung der Fotografie recht eindimensional aus. In einer „Fortuna“ benannten digitalen Collage altmeisterlicher Malerei ziehen Handleserinnen, Beutelschneiderinnen, Tänzerinnen und Musikanten vorbei.

Die Vagabunden-Romantik hat weder was mit der statistischen Lebensrealität der mehrheitlich sesshaften Roma zu tun, noch mit der der 20 Familien, die der Fotograf alle paar Jahre in Spanien, Italien, auf dem Balkan oder in Deutschland besucht. Obwohl durchaus viele von ihnen wie er selbst vor dem Bürgerkrieg geflüchtet sind und Schwierigkeiten mit ihrem Aufenthaltsstatus haben. So wie Familie Prizreni in Essen, deren Söhne zwar in Deutschland geboren sind und an einer Rapperkarriere basteln, aber sich trotzdem als Abgeschobene im ihnen unbekannten Kosovo wiederfanden. In der ihnen gewidmeten Serie sind außer Porträts auch Stillleben ihrer zerwühlten Betten und die zum Trocknen auf Wäscheständer gehängten Hausschlachtewürste der Großfamilie zu sehen.

Nihad Nino Pušija ist Jahrgang 1965.
Nihad Nino Pušija ist Jahrgang 1965.

© Nihad Nino Pušija

Waren die Prizrenis einverstanden, dass er das zeigt? Pušija, der mit Foto-Installationen zweimal im Roma-Pavillon der Biennale von Venedig vertreten war, nickt. Die Roma seien seit Jahrhunderten schlecht repräsentiert worden und deswegen froh, wenn sie im richtigen Licht gezeigt würden. „Ich lasse die Leute sich selbst arrangieren.“ Das gilt für die Porträts, die sie dann auch von ihm bekommen. Bei den Alltagsbeoachtungen fragt er hinterher, ob er die Aufnahmen zeigen darf. Sie einfach auf Instagramm zu posten, fiele ihm nie ein. „Ich mache ja keine Fotosafaris. Die Leute sind über die Jahre Freunde geworden.“

Berlin ist eine Stadt der Roma-Kultur

Der Fotograf ist längst ein Aktivist und Experte, der auch als Berater bei Kulturprojekten der in Berlin mit einer eigenen Galerie im Aufbau-Haus und in anderen Institutionen stark vertretenen Roma-Kultur hinzugezogen wird. Auch wenn sein Interesse anfangs noch in der eigenen Fluchterfahrung begründet lag, wurde es später durch eine andere Faszination ersetzt.

„Die Roma haben ein großes Talent zur visuellen Kommunikation“, glaubt der Fotograf und erzählt von seinen Erlebnissen in einer Flüchtlingsunterkunft in Lichtenberg in den Neunzigern. Nach drei Wochen hätten alle Roma-Frauen blond gefärbte Haare getragen, seien die Familien in der Stadt unterwegs gewesen, hätten sich in Windeseile ausgekannt. „Sonst hat sich kein Bosnier rausgetraut, nur die Roma waren überall, ohne Straßenschilder lesen zu können.“

Er bewundert die im jahrhundertelangen Überlebenskampf geschulte Assimilationsfähigkeit des notorisch unerwünschten Volkes. „Sie machen sich unsichtbar und beobachten die anderen sehr genau.“ Dass seine lange verstorbene Großmutter selbst eine Romni war, hat Nihad Nino Pušija erst vor wenigen Jahren erfahren. Das wollte in seiner Familie lieber keiner so genau wissen.

Galerie im Körnerpark, Schierker Str. 8, Neukölln, bis 9. Januar, Mo–So 10–20 Uhr. Der Bildband "Down where the spirit meets the bone" von Nihad Nino Pušija ist bei Peperoni Books im Lehmstedt Verlag erschienen, 296 S., 38 €

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