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Der französische Schriftsteller Nicolas Mathieu, 42

© Bertrand Jamot/Hanser Berlin

Nicolas Mathieus Roman "Rose Royal": Wie später ihre Eltern

Porträt einer 50-jährigen Frau aus der französischen Provinz: Nicolas Mathieus grandios niederschmetternde Novelle "Rose Royal".

Man glaubt, diese Frau bereits ganz gut zu kennen, die der französische Schriftsteller Nicolas Mathieu in seinem neuen Roman „Rose Royal“ porträtiert. (Aus dem Französischen von Lena Müller und André Hansen, Hanser Berlin, 2020, 94 Seiten, 18 €.) Rose heißt sie, ist fünfzig Jahre alt, von Beruf Buchhalterin, geschieden, hat zwei erwachsene Kinder und trinkt gern und häufig Bier oder Cocktails in einer Bar, die „Royal“ heißt.

„Manchmal kam es ihr vor, als würde ihr Leben ohne sie ablaufen. Gut ging es ihr vor allem hier, in dieser Bar, wenn sie mit Fred plauderte und langsam betrunken wurde, und dann war da noch Marie-Jeanne, ihre beste Freundin, die immer dienstags und donnerstags vorbeikam.“ Bekannt scheint diese Rose deshalb zu sein, weil sie gut auch eine Figur in Mathieus vor einem Jahr hierzulande veröffentlichten, in Frankreich 2018 mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman „Wie später ihre Kinder“ hätte sein können, einem großartigen Sittengemälde aus der wirtschaftlich und sozial mitunter recht heruntergekommenen nordostfranzösischen Provinz.

Hier ist Nicolas Mathieu aufgewachsen, er wurde 1978 in Epinal geboren, der Hauptstadt des französischen Départements Vosges in der Region Grand Est.

Und in einer ähnlichen, in „Rose Royal“ nun namenlosen Stadt hat auch Rose ihr gesamtes Leben verbracht, hat sich mit Typen herumgeschlagen, die ihr wie ihr geschiedener Mann nicht guttaten. Und hier hat sie sich, nachdem ihr letzter Liebhaber sie ebenfalls wieder geschlagen hatte, einen kleinen Revolver besorgt, „eine echte Gefährtin“, wie es heißt, die sie enorm beruhigt.

Das Ende ist ein kriminalistisches

Zu dem Zeitpunkt, da Nicolas Mathieus Roman einsetzt, scheint Rose trotz mancher düster-öder Momente ganz bei sich zu sein: selbstbewusst und selbstbestimmt genug, um sich das Leben nicht mehr verderben zu lassen. Bis es im Royal zu einer Begebenheit kommt, die diesem Leben noch einmal einen neuen, verhängnisvollen Lauf gibt. Rose gebraucht den Revolver in der Bar, allerdings um dem Leiden einer angefahrenen Hündin ein Ende zu machen. Man ahnt natürlich, dass dieser Revolver nicht das letzte Mal zum Einsatz kommt, und Mathieus Kunst besteht darin, seine überaus schlanke, keine hundert Seiten starke Novelle zielgerichtet und ohne die Möglichkeit eines Auswegs für Rose auf sein donnerndes, geradezu kriminalistisches Ende hinzuschreiben.

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Rose lernt den Besitzer der Hündin kennen, Luc, einem breitschultrigen, schweigsamen, nicht unsympathischen Mann, der im selben Alter wie Rose ist. Luc scheint grundsätzlich sein Leben ebenfalls hinter sich zu haben, selbst wenn es zumindest beruflich für ihn gut läuft und er als Immobilienmakler Gott und die ganze Stadt kennt.

R ose und Luc entdecken Gemeinsamkeiten, die nicht nur den Alkohol betreffen: „Nach der Scheidung hatten sie erst versucht, wieder jemanden zu finden, was nicht besonders erfolgreich gewesen war, und im Nachhinein wirkten ihre Versuche fast schon komisch, jedes Scheitern verwandelte sich in Anekdoten, die Freunde zum Lachen brachten.“

Rose hat alle Dating-Portale ausprobiert

Mathieus Prosa ist trocken, nüchtern, alles andere als poetisch und hat mitunter popliterarische Momente. Auch ist sie eher soziologisch motiviert, da kommen schon einmal eine Annie Ernaux oder ein Didier Eribon in den Sinn. Und so ist es von nicht geringer Bedeutung, dass Luc einen Audi Q7 fährt oder die Luxusrestaurants der Gegend kennt, dass Roses Freundin im Royal auch Haare schneidet und sich damit Geld verdient.Oder dass Rose den „Est Républicain“ oder „Paris Match“ liest, sich für das Ehepaar Macron interessiert und die Dating–Portale im Internet allesamt ausprobiert hat.

Das Risiko, dass er als auktorialer Erzähler stets mehr weiß als Rose und das auch betont, geht Nicolas Mathieu ein. Denn ob seine Heldin wirklich überlegt, wie man im Silicon Valley „aus Isolation und Seelennot“ Profit schlägt und Milliarden an dem „Unglück der Vereinzelung“ verdient? – Mathieu geht es vielmehr um das Schicksal einer Frau, die ihrem Milieu, ihrer Erziehung, ihrer Herkunft letzten Endes nicht entkommt.

Um ein Paar, das gegen die eigene kulturelle Sozialisation keine Chance hat. Was so hoffnungsvoll zwischen Rose und Luc beginnt, nimmt einen zunehmend frustrierenden Verlauf, auch sexuell, und die Emanzipationsgeschichte, als die „Rose Royal“ zunächst erscheint, klappt in ihr Gegenteil: Rose begibt sich in eine totale Abhängigkeit von Luc, so als würde ihr Leben wirklich ohne sie ablaufen. Eine Befreiung versucht sie erst, als es längst zu spät ist. Das mag niemand froh machen, da zeigt sich eine Tristesse, die nicht mehr als royale, sondern nur noch als totale durchgeht. Trotz alledem hallt das Schicksal von Rose lange nach, nicht nur literarisch.

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