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Ecke Broadway und 29th Street. Und was ist zu sehen? Die Spitze des Empire State Building.

© IMAGO

New York zu Fuß: Die linke Stadtneurotikerin

Marschiert und marschiert und marschiert: Vivian Gornick erkundet den Big Apple zwischen Manhattan und der Bronx.

Vivian Gornick braucht keinen Schrittzähler. Sie geht und geht und geht, ihr Leben lang, durch ihre Heimatstadt New York. Jeden Tag ein paar Stunden. Dann guckt sie und sammelt, pflückt Beobachtungen und Gesprächsfetzen auf, marschiert an gegen den eigenen Zorn und womöglich aufkeimende Depressionen. Die Straße ist ihr Zuhause, erst dort manifestiert sich für sie die Stadt, der sie ihr Buch gewidmet hat: „Eine Frau in New York“.

In der Bronx geboren, ist die Schriftstellerin seit 40 Jahren im West Village zu Hause, in einem Hochhaus, im 16. Stock. Wenn sie aus dem Fenster schaut, erfreut sie sich am Panorama – aber, so sagt sie, der Ausblick hat keinen Einfluss auf ihre Stimmung. Wenn sie runter auf die Straße komme dagegen, sei sie nach zwei Minuten eine andere. Eine Einzelgängerin, aufgeladen mit der Energie der Menschen um sie herum.

So ähnlich geht es einem beim Lesen des schmalen Bandes. Vivian Gornick mag 85 Jahre alt sein, aber ihre Sprache ist so frisch, ihr Blick so neugierig, die Dialoge so lebendig, dass man selber beim Lesen das Gefühl hat, eine Energiespritze gesetzt zu bekommen. Allein der Auftakt mit ihrem schwulen Freund Leonard, der sie durchs Buch begleitet, Single wie sie, mit dem sie mal wieder in einem Restaurant sitzt – ihr New York ist keiDie ne Stadt der Dinnerpartys, die können aus ihrer Sicht nur schiefgehen.

Eine Stadt der Freunde

Wie viele New Yorker bevorzugt Gornick die Öffentlichkeit des Restaurantbesuchs. Als sie also zu Beginn ihren Freund Leonard fragt, wie es ihm geht, antwortet er: „Wie ein Hühnerknochen, der mir im Schlund stecken geblieben ist. Ich kann ihn weder runterschlucken noch ausspucken. Im Moment versuche ich nur, nicht daran zu ersticken.“

Gornicks New York ist ganz klar eine Stadt der Freunde, nicht der Familien. Die braucht man aus ihrer Sicht hier nicht. „The Odd Woman and the City“ heißt der Band im Original. Als eigenwillige Frau, zweimal geschieden, fühlt sie sich in der Stadt zu Hause, die sie und andere ihrer Art sein lässt, wie sie sind.

Als „eine der bedeutendsten Schriftsteller, von denen Sie wahrscheinlich noch nie gehört haben“, hat der „New Statesman“ Vivian Gornick einmal beschrieben. In Deutschland wurde sie im vergangenen Jahr bekannt mit ihrem furiosen Buch „Ich und meine Mutter“, in dem sie schon ausgiebigst durch die Straßen New Yorks marschierte, allein oder mit jener Mutter, mit der sie so viel verbindet, die Liebe zur Stadt und deren Witz ebenso wie ihre Neurosen und die linke Haltung.

Aus der kindlichen Nervensäge Vivian wurde eine ausgewachsene Stadtneurotikerin, die, natürlich, ein Fan der Woody-Allen-Filme aus den 70er, 80er Jahren ist. Genau wie für den Regisseur bedeutet New York für sie vor allem Manhattan.

Die Bronx - ein Dorf

Als Kind war die Bronx für sie ein Dorf und Manhattan der Mittelpunkt der Welt, ihr Arabia. Da wollte sie hin, das hat sie geschafft. Vivian Gornick feiert ein Manhattan, das viele längst verloren glauben, von der Allmacht des Geldes korrumpiert. Auch wenn viele Künstler und Bohemiens vertrieben wurden, gerade in ihrem Viertel, dem West Village, herrscht für die Feministin noch immer ein Geist unbürgerlicher Freiheit, bunt gemischt und tolerant.

Aber auch sonst betont die Autorin das Demokratische dieser Stadt, in der sie sich mit Arthur, dem Bettler ihrer Nachbarschaft, anlegt und auf der Park Avenue eine elegant gekleidete ältere Dame belauscht, die zu ihrer Freundin sagt: „In meiner Jugend waren Männer der Hauptgang, heute sind sie nur noch die Garnitur.“

Das Buch schöpft aus Gornicks ganzem Leben – nicht nur aus der Erinnerung, sondern den Notizen, die sie sich beständig machte. Das Memoir ist ein Kaleidoskop aus Geschichten, von denen ein paar nicht länger als einen Absatz sind, andere sich über Seiten hinziehen; jene aus der Kindheit sind von besonderer Intensität. So, wie sie durch die Straßen zieht, kreuz und quer, streift sie auch durch die Jahre und die Literatur, die sie geprägt hat.

Kultiviertes Alleinsein

Es geht um Liebschaften und Lust, auch ihre Unlust, sei es an Analverkehr oder gegenständlichem Besitz, um Freundschaft und Einsamkeit. Gornick schreibt über den Schmerz, der damit verbunden ist, und zugleich den Unwillen, auf ebendiese Einsamkeit zu verzichten, in einer Stadt, in der sie immer ein intelligentes Gegenüber zum Reden hatte.

Wobei das kultivierte Alleinsein sie nicht zur Egomanin gemacht hat. Das Herz der Jüdin schlägt links, sie ist in ihrer Haltung so sozial geblieben, wie sie in der Kindheit geprägt wurde. Eine Szene vor der Suppenküche, die andere vielleicht gar nicht wahrgenommen hätten, gerät ihr unsentimental bewegend.

„Eine Frau in New York“ erscheint gerade zur rechten Zeit, da man nicht nach New York fahren kann. Und vielleicht, selbst wenn man könnte, nicht mehr hinfahren mag. Geschrieben hat sie es vor der Pandemie. Im Gespräch erzählt die Schriftstellerin, was sie in der langen Zeit des Lockdowns in New York so vermisst hat: die Menschen auf der Straße. Keine Leute, keine Autos, nichts außer surrealer Stille. „Da begreift man erst, was New York ausmacht: the crowd.“

Vivian Gornick: Eine Frau in New York. Aus dem amerikanischen Englisch von Pociao. Penguin Books, München 2020. 160 Seiten, 20 €.

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