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Weiß, wie es geht. Neurowissenschaftler Shane O'Mara.

© privat

Neurowissenschaftler über Spaziergänge: „Es ist ein Flow, ein kreatives Hoch“

Vor 100 Jahren spazierten Menschen noch 17 Kilometer pro Tag. Und in Corona-Zeiten? Ein Gespräch mit Shane O'Mara, Autor von „Glück des Gehens“.

Professor O’Mara, Sie zitieren Rousseau in Ihrem Buch. Er sagte, er kann nur im Gehen denken. Können Sie dabei schreiben?
Das halbe Buch habe ich so verfasst. Für jedes Kapitel habe ich einen groben Entwurf gemacht, mir mein Diktafon geschnappt und bin losgezogen. Man muss nur die Blicke der Passanten ignorieren. Dann kommt man mit zwei-, dreitausend Wörtern zurück.

Einiges war Mist, anderes gut. Beim Laufen kommen mir Ideen und Assoziationen, die ich nicht gehabt hätte, wenn ich sitzen geblieben und nur auf die Tastatur gestarrt hätte. Es hat etwas Befreiendes.

Die Gedanken kommen da in Gang?
Der Mensch ist für die Bewegung gemacht und das Hirn dazu da, das Problem, in der Welt herumzukommen, zu lösen. Schon wenn Sie stehen, sind mehr Teile des Körpers und Kopfes aktiv, als wenn Sie sitzen. Wenn sie sich bewegen, sind Ihre Sinne geschärft, Ihr peripheres Blickfeld wird besser, Sie hören mehr. Wenn sie an der Schwelle des Bewusstseins sind, können Ideen dann ins Bewusstsein sprudeln.

Man kann andere Verbindungen knüpfen?
Das ist eine der wichtigen Entdeckungen der Neurowissenschaften: wie vernetzt das Hirn ist. Es gibt kurze und lange Verbindungen zwischen den verschiedenen Regionen und innerhalb der Bereiche. Dass diese Netzwerke beim Gehen aktiviert werden, liegt zum Teil einfach daran, dass Bewegung sehr anspruchsvoll ist.

Sie müssen atmen, überlegen, wo Sie hergehen, die Balance halten. Diese Probleme muss das Hirn lösen. Roboter sind da sehr schlecht drin.

[Shane O’Mara: Das Glück des Gehens. Aus dem Englischen von Hainer Kober. Rowohlt 2020, 256 S., 22 €.]

Du lieber Himmel, da hat man doch gar keinen Kopf mehr fürs Denken!
Wir haben ein sehr großes Hirn. Und: Es delegiert das Problem der Bewegung an zentrale Mustergeneratoren im Rückenmark. Die feuern Bewegungssequenzen für Sie ab, ohne dass Sie darauf achten müssen. Nur am Anfang und am Ende denken Sie darüber nach. Dazwischen ist Ihr Kopf mobil, Ihre Hände sind frei.

Die meisten Menschen denken beim Gehen an Füße und Beine. Sie reden über die Hände. Was bedeutet es, sie frei zu haben?
Es macht einen Riesenunterschied! Sie können ohne Worte kommunizieren – gestikulieren, auf etwas zeigen –, können Nahrung, Waffen, ein Baby tragen. Auf zwei Beinen statt auf allen Vieren zu laufen ist unglaublich energieeffizient.

Mit einer vergleichsweise geringen Kalorienzufuhr können wir größere Distanzen bewältigen als jede andere Spezies. Das ist eine Erklärung, warum wir uns in der ganzen Welt verbreitet haben. Vom Alter von zwei bis, sagen wir 82 können Sie leicht zehn Kilometer am Tag laufen. In 100 Tagen schaffen Sie 1000 Kilometer. Das ist die Entfernung von Dublin nach Paris, eine beträchtliche Distanz.

Welchen Effekt hat der aufrechte Gang, bei dem der Kopf oben ist?
Wir glauben, dass das Gehen von den Füßen hoch aufgebaut wird. Dabei ist es genau umgekehrt: Unser Körper hängt am Kopf. Der gleicht auch aus, wenn wir über unebene Flächen gehen, Treppen steigen oder stolpern.

Welche Rolle spielt der Geh-Rhythmus?
Gehen beruht auf der abwechselnden Streckung und Beugung von Muskeln, ein rhythmisches Muster. Mit dem Hirn können wir beschleunigen und verlangsamen, aber der eigentliche Rhythmus wird im Rückenmark kontrolliert. So müssen wir nicht über jeden Schritt nachdenken. Achtsames Gehen ist extrem schwierig. Und wir sind sehr gut darin, den zwischenmenschlichen Rhythmus zu halten.

Sie beschreiben das gesellige Gehen als besonders erfüllend. Grüppchenbildung ist aber im Moment verboten.
Zu zweit dürfen Sie unterwegs sein. Beim Gehen mit einem anderen zu reden, kann sehr erfüllend sein. Achten Sie mal darauf, wie Sie Ihre Geschwindigkeit anpassen. Der eine zügelt sein Tempo unmerklich, der andere beschleunigt seins, sodass Sie sich synchron bewegen. Das ist ein sozialer Akt.

Man wird sich dessen erst bewusst, wenn jemand sich dem widersetzt, etwa weil man sich über den anderen ärgert, und dann zurückfällt oder vorprescht. Das hat etwas Aggressives.

Was beobachten Sie in Zeiten von Corona?
Ich glaube, dass es trotz der Beschränkungen ein noch größeres Maß sozialer Verbindung gibt. Wir müssen beim Gehen auf den anderen achten, Augenkontakt suchen, überlegen, was er macht, in welche Richtung er sich bewegt, um den Sicherheitsabstand zu wahren. Ich grüße jetzt auch viel mehr Menschen als sonst, wir nehmen mehr Notiz voneinander.

Sie fordern Bürogebäude mit Auslauf für die Mitarbeiter, drinnen wie draußen...
... das habe ich vor Corona geschrieben. Die Welt wird sich verändern. Im Januar habe ich mir in München die Schreibtische von „Walkolution“ angeschaut, wo man auf einem Laufband arbeitet und so den Strom für den Laptop generiert. Ich glaube, dass die da an was Großem dran sind. Allerdings sind das Mercedes-Modelle, wir brauchen noch die Ikea-Version.

Schöner noch wäre es, zwischendurch rauszugehen. Aber Städte sind nicht gerade für Fußgänger gemacht.
Es müssten mehr Autos aus den Zentren verschwinden. Ich laufe wahnsinnig gern in Städten, da gibt’s viel zu gucken. Aber ich muss dauernd anhalten, an einer Ampel warten. Nur wenn man ohne Unterbrechung in einem guten Rhythmus läuft, gerät man in einen Flow, dieses Glücksgefühl des kreativen Hochs.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lief ein Arbeiter in London 15 bis 17 Kilometer am Tag. In der reichen westlichen Gesellschaft von heute schaffen wir nur noch drei, vier Kilometer. Wir bringen uns damit um sehr viel. Und die Städte müssten für die Schwächsten entworfen werden, die Geh- und Sehbehinderten, die Alten, dann sind sie automatisch für die anderen auch gut.

Sie sagen, alte Leute können durchs Gehen lahmgelegte Teile des Hirns reaktivieren.
Ja, Sie können auch die Stärke des Herzens aufbauen. Sie müssen sich das Hirn als Muskel vorstellen, den Sie trainieren können. Wenn wir uns nicht bewegen, erschlafft das Hirn, das beim Gehen besser durchblutet ist als im Sitzen oder Liegen. Auf den Shetland Inseln verschreiben die Ärzte den Leuten Strandspaziergänge.

Es heißt, man soll täglich 10 000 Schritte gehen. Wie viele empfehlen Sie jetzt?
Mindestens 5000 mehr als bisher! (lacht)

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