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Immer in Bewegung: Beim Stegreif-Orchester singen die Musiker, spielen ohne Noten und ohne Dirigent. Ausstattung: Pia Dederichs, Marina Stefan.

© Neuköllner Oper

Neuköllner Oper: Der rasende Mozart

Opernklassiker, unter Strom gesetzt: Das fabelhafte Stegreiforchester mit "Giovanni. Eine Passion" in der Neuköllner Oper.

Am Anfang geht es zu Ende. Totenklagen erklingen zu dumpfen Trommelschlägen, die Prozession zieht am Publikum vorbei, ein feierlicher Trauerzug. Semana Santa, wir sind in Spanien. Volksfeststimmung breitet sich aus, plötzlich ist eine Straßenschlacht zugange - auch mit Geigenbögen lässt sich trefflich fighten. Die Bläser pfeifen auf dem letzten Loch, pfffft, pssst, aus die Maus. Tragen sie Don Giovanni zu Grabe, dort oben auf dem Paso? Den Komtur? Die Liebe selbst?

Während die Träger den Paso auf dem quadratischen Podest in der Mitte des Saals abstellen, zwischen Friedhof und Kapelle und vom Publikum umringt, herrscht Verwirrung zwischen den Geschlechtern. Männer tragen Frauenkleider, Korsett mit Rüschen und Hosenträgern, das Geschlecht wird zur Frage der Maskerade. Ganze Sänger*innengruppen verkörpern Giovanni, Donna Anna oder Leporello. Bei der Registerarie kabbeln sich die Herren der Schöpfung ums Mikro, entlocken dem Macho-Geprahle von Giovannis Diener weitere Liebesschlager, „Volare“, „Besame mucho“ oder Marlene Dietrichs "Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt".

Gregorianik, Jazz, Volksmusik, Rock, Techno, Chanson – all das steckt in Mozarts Partitur. Man muss es nur freilegen. Die Ouvertüre nach der Prozession ist mit Klezmerklarinetten-Schluchzern versetzt, die Champagnerarie erklingt als kollektiver Gassenhauer. Mit anderen Worten: Wir sind beim ersten Musiktheaterabend des Berliner Stegreif-Orchesters, Titel: „Giovanni. Eine Passion“.

Geleitet wird das internationale Ensemble von dem Hornisten Juri de Marco und der Dirigentin Anna-Sophie Brüning. De Marco hatte das Orchester 2015 ins Leben gerufen, gemeinsam mit zwei Dutzend Studierenden der Hochschule „Hanns Eisler“. Ihr Ziel: die Neudeutung, ach was: der Revolutionierung des Repertoires. Nach „FreeBeethoven“, „FreeSchubert“- und „FreeBrahms“Abenden (zuletzt 2018im Radialsystem) ist nun Mozarts Opernhit dran, an der Neuköllner Oper unter Regie von Ulrike Schwab. Dabei wechseln die Musiker munter die Instrumente (zu denen auch auch Akkordeon und E-Gitarre gehören), spielen ohne Noten und ohne Dirigentin, im Stehen oder schreitend, stolpernd, tanzend, kletternd – ohne dass der Klang darunter litte. Und viele agieren auch noch als Sänger, Chapeau!

Das Ergebnis: Mozart wird unter Strom gesetzt und in den Strudel der Zeiten geworfen. Was hat die unverwüstliche Legende vom Liebeswüstling mit den MeToo- und Genderdebatten dieser Tage zu tun? Ohne dass „Don Giovanni“ plump aktualisiert würde, werden Mythos und Gegenwart kurzgeschlossen, mit groovenden musikalischen Arrangements, wilden Choreografien, meditativen A-Capella-Lamenti, Flüsterchören und Show-Einlagen. Und alle sind unentwegt in Bewegung.

Fiesta-Folklore und Berghain-Libertinage, französische Revolution und mexikanische Totenfeier, sexuelle Befreiung und weibliche Selbstunterwerfung: Das Stegreiforchester hat eine fantastische, energische (mitunter die Akustik im kleinen Neuköllner Saal sprengende) Methode entwickelt, aus der Klassik Funken zu schlagen. Aus den von Begierde und Schmerz, Verführung und Gewalt getränkten Arien Mozarts, auch der Bangigkeit, wenn im Terzett oder im Quartett gesungen wird, destillieren sie die Zwiespältigkeit heutiger Liebesbeziehungen, die Vielfalt sexueller Identitäten.

Don Giovanni oder die Liebe zur Ekstase: Der Furor hat Methode

Und wenn es doch mal zu explizit zu wird – etwa beim Tanz um den daunengefederten Goldenen Phallus zu Giovannis finaler Höllenfahrt und dessen anschließender Fledderung –, schützen Tempo und Spielfreude vor allzu großen Plattitüden. Schließlich ist die Ekstase Giovannis Triebfeder, wie Regisseurin Ulrik Schwab sagt.

Musikalisch überzeugen neben Daniel Arnaldos, Thomas Florio, Enrico Wenzel und Justus Wilcken in multiplen Männerrollen besonders die Frauen: Donna Elvira (furios: die Isländerin Hrund Ósk Árnadóttir) tritt als wütende Flamencotänzerin auf und entlarvt den Koloraturgesang als alterierten Schrei. Donna Anna plant den Rachefeldzug der Giovanni-Opfer im Torero-Kostüm – die Sopranistin Derya Atakan verleiht ihr dabei ein immenses Ausdrucksspektrum. Und die zwischen ihrem Zukünftigen und dem Hochzeitsüberraschungsgast Giovanni schwankende Zerlina ist derart hin- und hergerissen, dass sie gleich doppelt in Erscheinung tritt. Keine Profi-Sängerinnen, sondern Orchestermusikerinnen, mal mit Geige, mal mit leiser, anrührend feiner Stimme.

Nicht jeder Grenzgang tut der Klassik gut. Aber hier hat die Raserei Methode, man wünscht sich mehr davon.
Neuköllner Oper, wieder am 16., 17., 19., 20., 23. - 26. 10., 30., 31. 10. Weitere Termine im November. Infos und Tickets: www.neukoellneroper.de und www.stegreif-orchester.de

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