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Neues Wilco-Album "The Whole Love": Genie und Kopfschmerz

Von Folk über Rock bis zu Elektro: Wilco feiern auf ihrem achten Album „The Whole Love“ die Stilvielfalt.

Von Jörg Wunder

Böse Zungen bezeichnen die Alben von Wilco als Dad Rock: Musik für ältere Herrschaften, für distinguierte, wertkonservative Rockliebhaber über 40. Nun, die neue Platte der „Dad Rocker“ fängt so an: Elektronisches Geknurpsel, ein stolpernder, stark synkopierter Schlagzeug-Bass- Groove, ein ins Dissonante wabernder Streicherteppich. Dann Jeff Tweedys Stimme, gepresst und entfremdet, die komisches, paranoides Zeug singt wie: „True love but / I had other ways to hurt myself“. Nach viereinhalb Minuten übernimmt ein stoischer, wuchtiger Beat, der klingt, als würde Glenn Kotche seine Snare Drum mit einem Eisenhammer bearbeiten. Schließlich schält sich eine präzis konturierte Gitarrenlärmorgie aus diesem merkwürdigen Song: Nels Cline ist in Aktion getreten, den jeder, der ihn mal auf einer Bühne erleben durfte, als einen der besten und wildesten Rockgitarristen der Welt in Erinnerung behalten wird.

„Art Of Almost“ heißt der Opener auf „The Whole Love“, dem achten Album von Wilco. Der ist in seiner zwischen Kraut-Elektronik und zerschossenem Gitarrenrock verorteten Schroffheit starker Tobak. Umso mehr, als der Vorgänger „Wilco (The Album)“ so lieblich klang wie keines seit dem Debüt „A. M.“ aus dem Jahr 1995, als die Band aus Chicago noch ungebrochen zeitgenössische Alternative-Country-Spielarten rezipierte.

Seither ist viel passiert. Das erste Wilco-Jahrzehnt war geprägt von ständigen Personalwechseln. Jeff Tweedy war (und ist) als Sänger, Gitarrist und vor allem Songschreiber die prägende Figur. Ein lange Jahre mit chronischer Migräne und der daraus resultierenden Tablettensucht kämpfendes Genie, das stets Wert auf die Feststellung legt, dass seine Kunst nicht wegen, sondern trotz seiner Leiden entstehen konnte. Auch musikalisch tat sich einiges. So öffnete sich die Band allen möglichen Einflüssen von Folk-, Blues- und Country-Traditionen über die barocken Pop-Exzesse der späten Beatles bis zur nihilistischen New-Wave-Avantgarde von Richard Hell oder Television.

Diese und andere Einflüsse sind auf den Platten zwar zu benennen, werden jedoch in einem robusten Ermächtigungsakt zum Teil der Klangidentität: Ein Wilco-Song bleibt stets als solcher erkennbar, auch wenn er Fremdanleihen macht. So gibt es auf „The Whole Love“ mehrere Stücke, die Assoziationen auslösen, ohne je nach Plagiat zu klingen: Das treibende „I Might“ erinnert an den euphorischen Retrorock der Flaming Lips, „Dawned On Me“ beschwört den unschuldigen Collegepop der frühen R.E.M., und der nörgelnde Tonfall auf „Standing“ lässt an die notorisch schlechte Laune des einstigen Pixies-Sängers Frank Black denken. Daneben gibt es schnurrigen Barjazz („Capitol City“), verhallte Folk-Balladen („Rising Red Lung“), staubtrockene Americana („Black Moon“), Powerpop mit psychedelischer Seitenlage („Born Alone“, „Whole Love“) und natürlich einen Gruß an die Beatles („Sunloathe“). Unter allen Wilco-Alben ist dies das vielfältigste, geradezu ein Kompendium ihrer enormen stilistischen Bandbreite.

Was die Songs zusammenhält, liegt in der mit „musikalisches Können“ nur unzureichend übersetzten musicianship der jetzigen Besetzung begründet: 2004 wurden mit Nels Cline und dem Multiinstrumentalisten Pat Sansone die letzten Bausteine zu einem stabilen Sextett ergänzt. Mit den seither entstandenen Alben, aber auch mit großartigen Konzerttourneen haben Wilco Maßstäbe für gitarrenlastige Rockmusik gesetzt. Und beispielsweise mit dem fantastischen „Impossible Germany“ vom Album „Sky Blue Sky“ die hohe Kunst des Gitarrensolos für die Popmusik des 21. Jahrhunderts gerettet.

Die Emanzipation der anderen Mitglieder genießt Tweedy hörbar. Denn die Rolle des Bandleaders lastet dadurch weniger schwer auf seinen Schultern. Zudem begünstigen das kontinuierliche Arbeiten und das harmonischere Binnenklima den Autonomieprozess der Band: Wilco haben sich nicht nur in Chicago ein mit hunderten Instrumenten und Aufnahmegeräten vollgestopftes Studio eingerichtet, sie haben sich auch von ihrer langjährigen Plattenfirma getrennt und das Label dBpm („decibels per minute“) gegründet.

„The Whole Love“ ist das Werk einer wahrhaft freien Band. Eine, die von ihrer Kunst gut leben kann, ohne sich irgendwelchen Erwartungen beugen zu müssen. Denn Wilco-Fans – wenn man die relativ stabilen Verkaufszahlen der Alben hochrechnet, dürfte es weltweit etwa eine halbe Million von ihnen geben – sind zwar kritisch, aber treu. Und sie lieben es, überrascht zu werden. Wilco tun ihnen den Gefallen, ein ums andere Mal.

So muss eine Platte, die mit Lärm beginnt, natürlich in Schönheit verseufzen. „One Sunday Morning“ handelt zwar von Trauer, Schmerz und Tod, klingt aber wie der Himmel: eine zwölfminütige Folk-Meditation über eine archaisch einfache Gitarrenfigur. Glenn Kotche trommelt so zart, als würde er Mikadostäbchen benutzen. Musik, die mit ihrer Umwelt zum tagträumerischen Vexierbild verschmilzt.

„The Whole Love“ erscheint am heutigen Freitag auf Anti/dBpm

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