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Lässiger Hairstyle, im Gangdrama „I'm No Longer Here“.

© Netflix

Neues Gangdrama bei Netflix: Der King wird verkloppt

Der Netflix-Film „I’m No Longer Here“ erzählt von mexikanischer Jugendkultur und dem Schmerz eines Entwurzelten.

Einmal will eine Frau von Ulises wissen, warum die Musik auf seinem MP3-Player so langsam läuft. Sind etwa die Batterien alle? Nein, sagt der junge Mexikaner, das sei Absicht „Je langsamer desto mehr Gefühl.“

Cumbia nennt sich die Musikrichtung, die Ulises (Juan Daniel Garcia Treviño) so sehr liebt.

Sie kommt eigentlich aus Kolumbien, aber der 17-Jährige und seine Freunde in Monterrey, einer Stadt in Mexiko, 150 Kilometer vor der US-Grenze, identifizieren sich vollkommen mit diesem Sound.

Nur eben in einer verlangsamten Version. Die Stimmen sind runtergepitcht, Trommeln, Ratsche, Akkordeon – alles schleppt sich sexy dahin.

Wenn eine Cumbia läuft, ist Ulises der King der Tanzfläche. Als Kanarienvogel-Version eines Hip-Hoppers vollzieht er seine Choreografie: Er beugt sich vornüber, geht in die Knie, dreht sich wie ein Brummkreisel. Danach wollen sich die Teenager-Mädchen mit ihm fotografieren lassen.

Tanz, Kleidung, Musik, Handzeichen und möglichst kühne Haarkreationen: Die mexikanische Netflix-Produktion „I'm No Longer Here“, die seit Mittwoch online zu sehen ist, nimmt sich die Zeit, alle Details einzufangen, über die sich die Jugendlichen in ihrer Subkultur definieren.

Die Kamera verharrt auch über den Leichen der Dealer

In warmen, farbsatten Bildern zeigt Regisseur und Autor Fernando Frias ihren Alltag in Monterrey. Die Kamera von Damián García („Narcos“) fährt entlang der Füße der Tanzenden und schwenkt über das nächtliche Glimmen der Stadt. Sie verharrt auch über den Leichen der Dealer, die im Vorbeifahren von einer rivalisierenden Bande erschossen wurden.

Beiläufig vermittelt Frias, der 2019 die HBO-Serie „Los Espookys“ gedreht hat, wie Mexikos Regierung im Kampf gegen die Drogenkartelle scheitert, und wie die sich ihrerseits als Wohltäter für die verarmte Bevölkerung inszenieren.

Erst gelingt es den Jugendlichen, unbehelligt durch das Kriegsgebiet ihrer Nachbarschaft zu manövrieren. Irgendwann jedoch ist Ulises zur falschen Zeit am falschen Ort und landet selbst auf der Abschussliste.

Frias bricht die Chronologie der Ereignisse auf. Er wechselt zwischen Mexiko und Ulises’ Exil in New York hin und her und wahrt auf diese Weise die Intensität, dem ruhigen Fluss der Erzählung zum Trotz.

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Ulises redet kaum, bewahrt meist ein Pokerface

In ihrem Zentrum steht mit Ulises eine spröde Figur, die es einem nicht leicht macht, sie ins Herz zu schließen. Er redet kaum, bewahrt meist ein Pokerface – in Monterrey weil es cool ist, in New York weil er kein Wort Englisch spricht.

Doch Ulises’ Schmerz, den die Entwurzelung in ihm pochen lässt, kriecht zunehmend durch die schönen Bilder. Aus dem King der Cumbia wird ein Niemand, der mit seinem Look bestenfalls Staunen, schlimmstenfalls Spott erregt.

„I'm No Longer There“ ist eine Migrationsgeschichte mit umgekehrten Vorzeichen: Die Sehnsucht gebührt diesmal nicht den USA, sondern der unerreichbaren Heimat Mexiko. Von Integration will Frias nicht erzählen.

Wenn Ulises in New York das erste Mal wieder zu einer Cumbia tanzt, beginnt der junge Mann förmlich zu leuchten – und mit ihm der Film. Für Momente ist er wieder König, in dieser Bude in Queens, in der er mit ein paar Schwarzarbeiter-Kollegen haust. Denen wird das schnell zu viel. Sie würgen die Musik ab und verprügeln den King.

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