zum Hauptinhalt
Stellt seinen neuerdings sehnig-muskulösen Body auf dem Cover selbstbewusst zur Schau: Mike Hadreas.

© Matador Records

Neues Album von Perfume Genius: Ego und Eros

Der süße Schmerz des Begehrens: Perfume Genius ist mit seiner fünften Platte „Set My Heart on Fire Immediately“ ein schillerndes Avantgarde-Pop-Album gelungen.

Von Jörg Wunder

Jason lässt im Bett die Schuhe an. Ungeschickt befummelt er seinen Lover. Tränen rinnen über sein Gesicht. Am nächsten Morgen wirft er seinen Übernachtungsgast raus. Der klaut ihm noch 20 Dollar aus der Jeans. Und ist sicher, dass Jason es bemerkt hat. 

In der traurigschönen Ballade „Jason“ besingt Mike Hadreas mit brüchiger Stimme, umschmeichelt von Streichern, einem elastischen Bass, verhallten Drums und einem Cembalo, das irritierenderweise an Deep Purples Progrock-Frühwerk „Blind“ erinnert, den One-Night- Stand mit einem heterosexuellen Mann.

[Wer mehr über queere Themen erfahren will: Der Tagesspiegel-Newsletter Queerspiegel erscheint monatlich, immer am dritten Donnerstag. Hier kostenlos anmelden]

15 Jahre ist das her, Alkohol war im Spiel, hinterher fühlte sich Hadreas leer und besudelt. Dennoch schwingt in ihm etwas nach von dieser Begegnung mit Jason, die in kein Täter-Opfer-Schema passt.

Dabei war Mike Hadreas, der mit 38 Jahren als Perfume Genius sein fünftes Album „Set My Heart on Fire Immediately“ veröffentlicht, in seiner Jugend das perfekte Opfer. Ein Scheidungskind mit Morbus Crohn, ein schmächtiger Teenager, der in einem Vorort von Seattle als Einziger an seiner Schule offen schwul lebt. Der deswegen Todesdrohungen bekommt, von Typen aus der Nachbarschaft krankenhausreif geschlagen wird.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Hadreas flüchtet nach New York, lässt sich durchs Nachtleben treiben, versinkt im Drogensumpf. Er geht zurück nach Seattle, zieht wieder bei seiner Mutter ein, macht einen Entzug, wobei er – unverhofftes Glück – seinen späteren Lebensgefährten und musikalischen Partner Alan Wyffels kennenlernt. 2010 wird er vom Indie-Label Matador unter Vertrag genommen, bei dem er noch heute ist.

Auf seinen ersten Platten dominieren elektronisch umflorte Klavierdramolette voll trotziger, mit bebender Stimme vorgetragener Bekenntnisse. Mit dem dritten Album „Too Bright“ aus dem Jahr 2014 werden die Songs vielschichtiger, die Arrangements elaborierter, bei den Aufnahmen hilft Adrian Utley von Portishead. 

„No Shape“, produziert von Blake Mills (Fiona Apple, Alabama Shakes), geht 2017 noch entschlossener in Richtung eines von allen Fesseln befreiten, queeren Superpops, auf dem Hadreas als flamboyanter Erzengel des Camp in die Fußstapfen der schwulen Glamrock-Ikone Jobriath tritt.

[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden.]

Seither sind drei Jahre vergangen, in denen Mike Hadreas offenbar einige Gewichte gestemmt hat: Aus dem spillerigen Körper, mit dem er sich 2017 im Video von „Die 4 You“ in Pose geworfen hat, ist ein sehnig-muskulöser Body geworden, den Hadreas auf dem Cover selbstbewusst zur Schau stellt. 

Der süße Schmerz des Begehrens zieht sich leitmotivisch durch die Texte. „Your Body Changes Everything“ trägt das programmatisch im Songtitel, zum Postpunk-Klangteppich mit New-Order-Bass und spitzen Streicherriffs croont Hadreas über das ernste Spiel von Dominanz und Unterwerfung. 

„Just A Touch“ ist eine herzzerreißende Reflexion über eine schwule Liebe, die nicht offen gelebt werden konnte („The promise in your eye / To hold our secret so tight“). Dass einen dieses Stück zu Tränen rühren kann wie zuletzt die Passionslieder von Antony & The Johnsons, liegt nicht nur an Hadreas' Gesang zwischen klarem Tenor und ätherischer Kopfstimme, sondern auch an dem wunderbar luftigen Arrangement. 

Enormer Stilreichtum

Vor allem die superbehutsamen, wie mit Schlägeln aus Watte gespielten Paukentupfer des legendären Session-Drummers Jim Keltner sind zum Niederknien.

Behutsamkeit ist aber keineswegs der einzige modus operandi auf „Set My Heart on Fire Immediately“. Das Album, wieder von Blake Mills produziert und mit erstklassigen Studiomusikern (Pino Palladino, Matt Chamberlain) aufgenommen, bietet einen enormen, sich in der Pophistorie freimütig bedienenden Stilreichtum, ohne sich im Beliebigen zu verlieren. 

Es gibt delikat instrumentierte Zerbrechlichkeiten wie „Whole Life“, das nach einem vergessenen Roy-Orbison-Song klingt, „Leave“ mit Flüstergesang, Coyotengeheul und Gruselfilm-Streichern, den folkigen Beschwörungsschleicher „Moonbend“ oder das ambientartig verklingende „Borrowed Light“. 

Der süße Schmerz des Begehrens: Das neue Album von Perfume Genius.
Der süße Schmerz des Begehrens: Das neue Album von Perfume Genius.

© Matador Records

Aber es gibt auch lebensbejahenden Sunshine Pop wie „Without You“ oder das erstaunliche „Describe“: Zweieinhalb Minuten lang singt Hadreas mit tiefergelegter Stimme zu verzerrten Zeitlupen-Stromgitarren wie im Proberaum einer 90er-Jahre-Stonerrock-Band, ehe der Song im ebenso langen Nachhall verweht. 

Das Video ist nicht minder eigenwillig: Es zeigt Hadreas inmitten einer Landkommunen-Dystopie, deren Treiben zwischen religiösem Wahn und sadomasochistischer Verzückung an Filme von Luis Buńuel erinnert.

Im selben Setting spielt auch das Video zu „On The Floor“, in dem Mike Hadreas mit einem Partner eine Paarchoreografie von unerhörter Sinnlichkeit tanzt. Dabei gelingt ihm nicht nur eine queere Überschreibung der eigentlich heterosexuell besetzten ländlichen Americana, er ironisiert in seiner Staub-und- Schweiß-Ikonografie zudem Stereotypen einer hypermaskulinen schwulen Subkultur. 

[Alle wichtigen Updates des Tages zum Coronavirus finden Sie im kostenlosen Tagesspiegel-Newsletter Fragen des Tages. Dazu die wichtigsten Nachrichten, Leseempfehlungen und Debatten. Zur Anmeldung geht es hier.]

Die Subversivität von „On The Floor“ speist sich auch aus dem Umstand, dass die unzweideutige Botschaft („the rise and fall of his chest on me“) in einem unwiderstehlich melodischen Popsong transportiert wird, der mit sommerlichem Groove und perlenden Gitarrenarpeggios bei jedem Formatradio in Heavy Rotation laufen könnte.

„This is music to both fight and make love to“, behauptet der Schriftsteller Ocean Vuong in seinem Essay zur Platte. „Set My Heart on Fire Immediately“ begeistert als Reifeprüfung eines Künstlers, der seinen kämpferischen Gestus zugunsten eines Albums voller Zwischentöne zurückgenommen hat. 

Das Sinnieren über die Wechselwirkungen von Ego und Eros findet kongenialen Widerhall in der Musik, die zwischen smartem Zitat-Pop (man höre die subtil eingeflochtenen Brian-Eno- und Kate-Bush-Verweise in „Nothing At All“) und kinderliedhafter Emotionalität eine perfekte Balance findet. Mehr denn je hat sich Mike Hadreas den zweiten Teil seines Künstlernamens verdient.
„Set My Heart on Fire Immediately“ erscheint bei Matador Records.

Zur Startseite