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Pearl Jam mit Sänger Eddie Vedder in der Mitte.

© Danny Clinch/Universal

Neues Album von Pearl Jam: Tanz mit den Hellsehern

Pearl Jam bringen mit „Gigaton“ ihr erstes Studioalbum seit sieben Jahren heraus. Es ist von einer wütenden Energie geprägt - und enthält eines ihrer besten Lieder seit Langem.

Wenn eine Band ihre Instrumente tauscht, kommt dabei oft lustiger Krach heraus – oder eine echte Überraschung. So geschehen auf „Gigaton“ (Universal), dem gerade veröffentlichten elften Studioalbum von Pearl Jam. Nach zwei schnell und wütend heruntergerockten Eröffnungsstücken, steht das Quintett bei Song Nummer drei plötzlich in der Disco.

Tänzelnde Bassline, zackiger Schlagzeugbeat, die Gitarre säbelt funky dazwischen. Nur am Gesang von Eddie Vedder erkennt man, dass es sich um einen Pearl-Jam-Song handelt. Und was für einen! „Dance Of The Clairvoyants“ ist eines ihrer besten, mitreißendsten Lieder seit der Jahrtausendwende. Vielleicht sollten Gitarrist Stone Gossard und Bassist Jeff Ament öfter mal die Plätze tauschen.

Im Refrain geht es um Tage, die alle gleich sind

Aufgenommen lange vor der Coronakrise und als Single schon im Januar erschienen kommt hinzu, dass der Text von „Dance Of The Clairvoyants“ jetzt auf ganz andere Weise Sinn ergibt – ein Effekt der sich derzeit ständig einstellt beim Hören von Popmusik.

Eine Zeile wie „Numbers keep falling off the calendar’s floor/ We’re stuck in our boxes“ hätte man sonst vielleicht kaum bemerkt. Und beim Refrain könnte man Vedder fast für einen der im Songtitel angesprochenen Hellseher halten: „Expecting perfection leaves a lot to endure/ When the past is the present and the future’s no more/ When every tomorrow is the same as before“.

Für viele in ihren Wohnungsboxen hockenden Menschen sind die Tage derzeit tatsächlich recht ähnlich. Da kann eine vertraute Stimme, ein bekannter Sound zu einer Quelle des Trostes werden.

Genau diese Funktion dürfte „Gigaton“ für die extrem treue Fangemeinde der Gruppe aus Seattle in diesen Tag wohl haben. Auch um zu helfen, über den Schmerz der verschobenen US-Tournee hinwegzukommen. Die beiden für Juni in Frankfurt und Berlin geplanten ausverkauften Termine stehen derzeit noch.

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So experimentierfreudig wie bei „Dance Of The Clairvoyants“ gibt sich die letzte noch intakte große Band der Grunge-Ära auf den übrigen elf Song kaum einmal. „Gigaton“ ist nicht ihr „Reflektor“, das Album mit dem Arcade Fire den Dance- und Art-Rock für sich entdeckten.

Die zwölf neuen Stücke von Pearl Jam, an denen alle Bandmitglieder mitgeschrieben haben, bewegen sich vor allem in der ersten Hälfte auf bekanntem Rock-Terrain. „Who Ever Said“ und „Quick Escape“ bollern mächtig los, bieten Instant-Katharis plus ein paar Gratis-Kalenderweisheiten („Whoever said it’s all been said/ Gave up on satisfaction“). Die beiden Stücke sind – wie die ganze Platte – extrem dynamisch und atmosphärisch produziert.

Eddie Vedder faucht und schreit

Man kann der Band beim Anspannen ihrer Muskeln zuhören. Manchmal überspannen sie die auch ein wenig, etwa bei den Gitarren-Soli, die nicht alle zwingend erscheinen. Fünf Songs sind länger als fünf Minuten, es ist mit einer knappen Stunde Spielzeit die längste Pearl-Jam-Platte überhaupt.

Offenbar hat sich einiges angestaut seit vor sieben Jahren ihr letztes Album „Lightning Bolt“ erschienen ist. Wut vor allem. Eddie Vedder faucht und schreit was das Zeug hält. Es gibt ja auch genügend Gründe. Einer davon ist der Klimawandel, auf den die Band mit einem Covermotiv von grausamer Schönheit eingeht. Es zeigt einen imposanten Gletscher an der Küste Norwegens, von dem große Mengen Schmelzwasser in die Tiefe stürzen. Als würde der Eisberg verbluten.

Einen Verantwortlichen für diese und andere Miseren sieht die Gruppe in Donald Trump, den sie mehrmals ganz direkt angreift. In „Seven O’Clock“ verspottet der 55-jährige Eddie Vedder den US-Präsident durch einem Vergleich mit Native-Americans-Führern: „Sitting Bull and Crazy Horse, they forged the north and west/ Then you got Sitting Bullshit as our sitting president.“

Dieser Midtempo-Song gehört zu den stärksten des Albums, wobei Vedder hier verwirrenderweise wie Bruce Springsteen klingt. Vielleicht ein kleines Signal an den Boss, Trump auch einmal etwas direkter anzugehen in seiner Musik.

Das Licht teilen, sich nicht unterkriegen lassen

Gegen Ende wird das Album deutlich ruhiger, folkiger. Die Akustikgitarren nehmen mehr, die E-Gitarren weniger Raum ein. Den letzten Song, „River Cross“, dominieren lang stehende Orgelakkorde und über die Toms springende Achtel, während Eddie Vedder in seiner schönsten Schmerzensmann-Manier unsere finsteren Zeiten besingt, in denen man sich einer schrecklichen Übermacht gegenübersieht.

Zum Finale findet er in ein mehrstimmiges Mantra: „Share the light/ Won’t hold us down“. Das Licht teilen, sich nicht niederhalten lassen. Eine leise Hoffnung auf den Widerstandsgeist der Gemeinschaft – man kann sie brauchen im amerikanischen Wahljahr und sicher auch danach.

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