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In seinem Studio in Sussex hat Paul McCartney das Album im Alleingang eingespielt und produziert.

© Mary McCartney

Neues Album von Paul McCartney: Der Ex-Beatle beglückt mit einer Song-Wundertüte

Auf seinem im Alleingang eingespielten Album „McCartney III“ zeigt Paul McCartney, wie vielseitig er ist. Er mischt Folk, Rock Afropop und Trip-Hop.

Von Jörg Wunder

Es gab jedes Mal einen triftigen Grund, wenn sich Paul McCartney aus der Glitzerwelt des Popbusiness zurückgezogen und eine Platte im Alleingang aufgenommen hat: Das unglamouröse Debütalbum „McCartney“ war 1970 seine Reaktion auf das mediale Getöse um den Auflösungsprozess der Beatles.

1980 besiegelten die Synthie-Kabinettstückchen von „McCartney II“ das Ende seiner zweiten (und letzten) Band Wings. Nun, nur zwei Jahre nach „Egypt Station“, einem ambitionierten, von Starproduzent Greg Kurstin (Adele, Foo Fighters) geschliffenen Songzyklus, erscheint am Freitag „McCartney III“ (Capitol/Universal).

Gelassenere Herangehensweise

Auslöser war die Zwangspause des Corona-Jahres, die er in Sussex nutzte, um in seinem in einer Windmühle eingerichteten Aufnahmestudio ein Album einzuspielen, dessen Souveränität und Nahbarkeit etliche seiner „regulären“ Veröffentlichungen verblassen lässt.

Durch McCartneys Sololaufbahn zieht sich ja als eine Art Leitmotiv, dass er stets an dem gemessen wurde, was er davor mitgeschaffen hatte: das wohl bedeutendste, wirkmächtigste und erfolgreichste Gesamtwerk der Pophistorie. Und das als blutjunges Jahrhunderttalent (McCartney war 27, als die Beatles sich trennten), in Blutsbrüderschaft und erbitterter Konkurrenz mit einem ebenbürtig begabten, charakterlich und künstlerisch indes grundverschiedenen Anderen.

Der traumatische Zerfall der Arbeits- und Schicksalsgemeinschaft von Paul McCartney und John Lennon hat zwei ewig Suchende zurückgelassen, die ohne einander nie wieder die frühere Größe erreichen konnten. Lennons schroffer Trotz passte zu dieser Verlorenheit besser als McCartneys gediegener Perfektionismus, weswegen ersterem bis zu seiner Ermordung 1980 ein zwar inkonsistentes aber stets eine klare Künstleridentität widerspiegelndes Solowerk gelang.

Lennon wurde zur Ikone, aber McCartney war der erfolgreichere der beiden. Mit millionenfach verkauften Alben wie „Band On The Run“, Hitsingles wie dem Dudelsack-Schmachtfetzen „Mull Of Kintyre“ oder Kollaborationen mit Superstars wie Stevie Wonder und Michael Jackson wurde er steinreich.

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Trotzdem hatte man oft den Eindruck, dass hier einer etwas zu beweisen versucht. Etliche seiner rund zwei Dutzend Soloalben litten an zu vielen Ideen, was die Sicht darauf versperrte, dass hier einer der brillantesten Komponisten und komplettesten Musiker der letzten 100 Jahre am Werk war.

Die Ziellosigkeit vor allem der mittleren Karrierephase wich mit zunehmendem Alter einer gelasseneren Herangehensweise, zumal es die Natur gut mit dem zum dritten Mal verheirateten Pop-Aristokraten meint: Mit 78 sieht Sir Paul McCartney nicht nur 15 Jahre jünger aus, sondern ist auch noch so fit, dass ihn eine abgesagte Welttournee nicht etwa zum Müßiggang verleitet, sondern einen Kreativitätsschub freisetzt.

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„McCartney III“ ist eine echte Wundertüte. Die stilistische Vielfalt der elf Stücke bezeugt die Aufgeschlossenheit eines Musikers, der sich bestens informiert über den State of the Art im Pop zeigt. Und trotzdem als Autor und Interpret eines sehr persönlichen Werks jederzeit erkennbar bleibt.

Den fast instrumentalen Auftakt „Long Tailed Winter Bird“ prägen resolutes Folk-Gitarrengepicke und McCartneys voluminöser E-Bass, der wie ein frisches Holzscheit im Kaminfeuer knistert. Es macht Sinn, dass McCartney einen erstmal ankommen lässt, ehe er zu den neckischen Afropop-Gitarrengirlanden von „Find My Way“ zu singen beginnt.

Denn seine Stimme hat im Laufe der Jahre an Umfang und Modulationsfähigkeit eingebüßt – was mit moderner Studiotechnik wohl zu kaschieren wäre. Doch die Tatsache, dass man oft hört, und mutmaßlich hören soll, wie ein begnadeter Sänger um Töne ringen muss, verleiht den Stücken eine Fragilität und Wahrhaftigkeit, die zu Herzen geht.

Seine Stimme kämpft - und rührt an

So hätte McCartney leichtfüßige Pop- Ohrwürmer wie das an Blur erinnernde „Seize The Day“ oder „Pretty Boys“ früher quecksilbrig weggesungen, während er hier tapfer mit Refrains und Strophen kämpft. Den nostalgisch grundierten Inhalten – bei „Pretty Boys“ etwa geht es um den Starrummel während der Beatlemania – beschert das eine ganz andere Tiefe. In dem elegisch schnurrenden „Women And Wives“ klingt McCartneys Stimme fast wie der späte Johnny Cash, nur ohne dessen jenseitigen Schmelz.

Die fruchtbarsten Resultate zeitigt der Do-it-yourself-Arbeitsprozess, wenn sich McCartney aus der postbeatlesken Komfortzone herauswagt. So scheppert die beherzte Pubrock-Sottise „Lavatory Lil“ mit bluesiger Sologitarre und kneipigem Backgroundchor so frech wie die Debütsingle einer imaginären, von Jack White entdeckten Nachwuchscombo.

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An Whites Band Raconteurs könnte man bei „Slidin’“ denken, einem furiosen Schwermetallbluesrock mit gewaltigem Schlagzeugrumms. „Slidin’“ ist das einzige Stück, bei dem McCartney a little help from his friends, etwa seinem langjährigen Gitarristen Rusty Anderson, in Anspruch genommen hat – was vielleicht den mehr nach „Band“ klingenden Sound erklärt.

Noch weiter raus wagt sich McCartney mit den beiden längsten Stückens: „Deep Down“ rollt gemächlich über schwermütigem R’n’B-Orgelgroove, der sich gut auf einer Platte von Michael Kiwanuka machen würde, ehe der repetitive „Party every night!“-Text in eine Coda zwischen Leidenschaft und Resignation mündet. Ein Hit! Opus magnum des Albums ist das achtminütige „Deep Deep Feeling“, das McCartney als großen Soundarchitekten zeigt. Mühelos manövriert er die betörende Ballade durch ein labyrinthisches Stop-and-Go-Arrangement zwischen Trip-Hop, „Sgt.-Peppers“-Psychedelik und Pink-Floyd-Anleihen.

Im Herbst einer märchenhaften Karriere passt Paul McCartney mit seinem dritten wahren Solo-Werk erstaunlich gut in das Pop-Geschehen eines verstörenden Jahres, in dem sich viele Stars – etwa Taylor Swift – künstlerisch umorientiert haben. Neu erfinden musste sich McCartney dafür nicht. Wie er auf „McCartney III“ die Grenzen seines Könnens austestet, ohne vor seinen Schwächen davonzurennen, ist ein Gewinn für uns alle.

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