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Glittergewitter. Miley Cyrus, 28, wuchs in Nashville als Tochter einer Filmproduzentin und eines Countrysängers auf.

© Sony

Neues Album von Miley Cyrus: Knutschorgien im Bällebad

Mit dem Album „Plastic Hearts“ will Popstar Miley Cyrus den Stadionrock rehabilitieren. Muss das sein? Unbedingt!

„Midnight Sky“ von Miley Cyrus ist nicht nur ein Song, sondern eine kleine Rock’n’Roll-Geschichtsstunde. Die Synthesizer-Melodie zu Beginn hat sich Cyrus von Fleetwood Macs Song „Little Lies“ geborgt, die Catchphrase im Refrain vom Boss persönlich: „I was born to run, I don’t belong to anyone“, singt Cyrus – nein, sie gehöre zu niemandem, sie sei allein auf der Flucht. Bruce Springsteen wollte in seinem „Born To Run“ zumindest gemeinsam mit der Liebsten ausbüchsen.

Im Video zu „Midnight Sky“ liegt Cyrus mal in einem bunten Bällebad, dann wieder tanzt sie in abenteuerlichen Leder- oder Schlaghosen-Ensembles. Nebenbei beantwortet sie eine Frage, die sich sonst nur Elton John stellen würde: Braucht man in einem Raum, von dessen Decke gleich mehrere Discokugeln hängen, echt noch bunte Tierskulpturen als Staffage? Logisch, und zwar Zebras, Leoparden und Giraffen.

Sie greift in den Fundus von Glamrock und Wave

Die 28-jährige Sängerin hat mit beiden Händen in den Zeichenfundus von Glamrock und New Wave gegriffen, um sich in einen Popstar zu verwandeln, der wie Debbie Harry und David Bowie zugleich aussieht. Ihr neues, siebtes Album heißt „Plastic Hearts“, und es soll alle Brücken in ihre künstlerische Vergangenheit abreißen. Mal wieder.

Miley Cyrus wuchs in Nashville auf, als Tochter der Filmproduzentin Leticia Tish Cyrus und des Countrysängers Billy Ray Cyrus. Wie viele spätere Popstars war auch sie ausgezogen, ein sittsamer Disney-Star zu werden, entdeckte aber irgendwann Rauschmittel und Selbstbestimmung.

Von ihrem Image als süßer Serien-Darling in „Hannah Montana“ verabschiedete sich Cyrus 2013, als sie im Video zu ihrem Song „Wrecking Ball“ nackt auf der titelgebenden Abrissbirne ritt und sehr engagiert an einem Hammer leckte. (Ein wiederkehrendes Motiv: Im „Midnight Sky“-Video leckt sie am bunten Leoparden.) Vor drei Jahren schließlich die nächste Volte: Mit ihrem Album „Younger Now“ kehrte Cyrus zum Sound ihrer Heimatstadt Nashville zurück.

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Egal, wohin es Miley Cyrus zieht, sie springt mit Anlauf. Und oft auch mitten hinein ins Fettnäpfchen. Als Teenie verärgerte sie die chinesische Community in den USA, weil sie auf einem Partyfoto hinter einem asiatisch aussehenden Freund mit zu Schlitzen verzogenen Augen posierte.

Ihr Prinzip heißt Trial and Error

Später handelte sie sich nach einem Auftritt mit dem Kotzbrocken Robin Thicke den Vorwurf ein, sich durch „Twerking“, einem sehr expliziten Tanzstil, schwarze Jugendkultur anzueignen. Cyrus’ Karriere funktioniert nach dem Prinzip „Trial and Error“, ohne dass ihre Irrtümer sie jemals so aus der Bahn zu werfen schienen wie andere Popstars auf Identitätssuche.

Im Laufe dieses komischen Pandemiejahres, in dem auch Taylor Swift vom Trends dirigierenden Popstar wieder zur Folksängerin alter Schule wurde, kursierten zwei Live-Covers von Miley Cyrus. Mit ihrer raspeligen Stimme sang sie Blondies „Heart of Glass“ und „Zombie“ von den Cranberries: Ein scheußlicher, rockröhriger Gitarrenbombast, der zugleich ganz doll handgemacht und nach großem Entertainment klingen soll. Außer ihrer Jugend hatte Miley Cyrus den Stücken nichts hinzuzufügen. Aber obwohl es nun beide Covers auf „Plastic Hearts“ geschafft haben, ist das Album trotzdem mehr als blödes Kostümtheater. Auch wenn es erstmal nicht so aussieht.

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Auf dem in schwarz und pink gehaltenen Cover-Shot des Popstar-Fotografen Mick Rock trägt Cyrus Vokuhila und Lederhandschuhe. Selbst ein Mensch, der die vergangenen 50 Jahre in einem Schockfroster verbracht hat, würde begreifen, dass es hier um Rock, Rock, Rock geht.

Der erste Song „WTF Do I Know“ ist genau jene Art von maximal druckvollem, aber poliert produziertem Pop, den Sängerinnen wie Kelly Clarkson oder Avril Lavigne in den Nullerjahren als Punk verkauften. In Folge fährt Cyrus allerhand Gimmicks auf, die vielen Künstlerinnen ihrer Generation im Leben nicht einfallen würden: Geknödel im Bonnie-Tyler-Stil, Zeitzeugen-Gäste wie Joan Jett, Stevie Nicks oder Billy Idol, und sogar diese völlig selbstvergessenen Gitarrensoli, zu denen der Lieblingsonkel nach dem fünften Bier das Gesicht wie im Schmerz verzieht und andächtig nickt.

Trotzdem wird sie nie zur Karikatur

Der Musikjournalist John Seabrook hat mal über Britney Spears’ Hit „Baby One More Time“ gesagt, er sei in seiner Grundkonstitution ein Rocksong. Mit Miley Cyrus’ neuen Stücken verhält es sich gewissermaßen umgekehrt: Ihre Songs sind lupenreiner Pop im krachledernen Outfit.

Interessanterweise wird Cyrus trotzdem nie zur Karikatur. Vielleicht, weil sie ihre Sache zu gut macht. Vielleicht, sie weiß, dass es ein gewaltiger Unterschied ist, ob man Dinge kaltschnäuzig ironisch meint – oder sie mit Liebe tut, obwohl einem ihre Lächerlichkeit bewusst ist. Rock-Miley überdreht die Nummer bis an die Grenze der Parodie, lacht aber niemanden aus, der daran tatsächlich Spaß hat.

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Manchmal ist das alles so befremdlich, dass man sich die echte Bonnie Tyler zurückwünscht. Dann wieder geht Cyrus’ Rechnung auf. „Prisoner“ zum Beispiel klingt, als hätte man Olivia Newton-Johns Disco-Song „Physical“ von 1981, dem die Refrain-Melodie entlehnt wurde, mit Kiss’ Bikertreff-Nummer „I Was Made For Loving You“ gekreuzt, anschließend mit Benzin übergossen und angezündet.

Es ist ein Hit, der einfach alles hat: Schmutz und Glamour, Witz und Wucht, nicht zuletzt auch die Unterstützung der britisch-albanischen Sängerin Dua Lipa. Im Video zum Song fahren die beiden eine Wagenladung voll fantastisch doofer Rock-Klischees auf. Mit ihrer Freundinnen-Posse düsen sie im Tourbus zu ihrem Auftritt in einem ranzigen Club und tun unterwegs, was Rockerinnen halt so tun: Spinnen essen, während singende Münder durchs Bild fliegen, sich die Netzstrümpfe zerrupfen, sich mit Kunstblut überschütten. Und wild miteinander knutschen.

Früher hat sie sich als pansexuell bezeichnet

Cyrus’ Verhältnis zur LGBTIQ-Szene ist nicht ganz unkompliziert. Mit ihrer „Happy Hippie Foundation“ unterstützt sie obdachlose queere Jugendliche und trat immer wieder als Advokatin für Trans-Rechte auf. In der Vergangenheit hatte sie sich als pansexuell bezeichnet, was bedeutet, dass sie sich zu Menschen aller Geschlechtsidentitäten hingezogen fühlt.

Kürzlich aber verärgerte sie die queere Community, als sie im Liebestaumel ihrem damaligen Freund verkündete, Frauen müssten nicht homosexuell sein: Es gebe durchaus tolle Menschen mit Penis, man müsse sie nur finden. Ganz so, als ob sich irgendwer seine sexuelle Orientierung aussuchen könnte.

[„Plastic Hearts“ ist bei RCA Records erschienen.]

Die Feier lesbischer Leidenschaft in „Prisoner“ könnte man also für den Versuch halten, das queerfreundliche Bild wieder geradezurücken. Vor allem aber ist das Video wichtig, um nicht nur regressiv zu finden, was Cyrus da veranstaltet. Sie und Dua Lipa performen eine altbackene Idee von Rockmusik mit dem Selbstverständnis einer Frauengeneration, die ihren Platz in diesem ganzen Zirkus nicht nur lässig als gegeben voraussetzt, sondern Männer darin auch ganz und gar überflüssig findet. Das hat den schönen Effekt, dass man die ganze olle Glamrock-Ikonografie einfach mal unterhaltsam finden kann, ohne sich über den ihr innewohnenden Machismo zu ärgern.

Das letzte Wort nach der „Prisoner“-Orgie hat schließlich die legendäre Drag-Queen Divine, die 1988 verstorben ist. „I'm a free woman now and my life is just ready to begin“, sagt sie in einer kurzen Videosequenz am Ende: Sie sei eine freie Frau, deren Leben jetzt endlich beginnen könne. Es kommt genauso von Herzen wie Miley Cyrus’ Rockspektakel.

Julia Lorenz

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