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Katie von Schleicher wuchs in Maryland auf und lebt in Brooklyn.

© Annie Del Hierro

Neues Album von Katie von Schleicher: Am Rad drehen

Der New Yorker Musikerin Katie von Schleicher ist mit „Consummation“ ein beglückendes Indierock-Album gelungen. Zu den Inspirationsquellen zählt Hitchcoks "Vertigo".

Ein Mann verliebt sich in eine Frau, die ihm vorspielt eine andere zu sein. Nachdem sie sich vor seinen Augen umgebracht hat, ist er untröstlich – bis er eine andere Frau trifft, die der ersten extrem ähnelt.

Tatsächlich ist es die erste Frau, die sich nur zum Schein getötet hat. Doch der Mann erkennt sie nicht und versucht stattdessen, sie seinem Bild der vermeintlich anderen Frau anzugleichen.

Männliche Obsession und Projektion

Alfred Hitchcocks „Vertigo“ ist ein Film über männliche Obsession und Projektion. Mitunter wird auch die Grenze zum Missbrauch überschritten, etwa in der Szene nach dem ersten Selbstmordversuch, in der Kim Novaks Figur plötzlich nackt im Bett des Mannes (James Stewart) aufwacht.

Alfred Hitchcock hat im Gespräch mit François Truffaut keinen Hehl daraus gemacht, dass es in dem Film um ein nekrophiles Begehren geht. „Stewarts Anstrengungen, die Frau wiederauferstehen zu lassen, werden filmisch so gezeigt, als versuche er sie nicht an-, sondern auszuziehen“, sagt er in dem berühmten Gesprächsband der beiden Regisseure.

Die Szene, die Hitchcocks Vorstellungen am genauesten entsprach, ist jene, in der die Frau sich die Haare bereits wieder blondiert hat, sie aber noch nicht hochgesteckt trägt. „Das heißt, fast steht sie nackt vor ihm, sie braucht nur noch den Slip auszuziehen.“ Entsprechend verzückt reagiert Stewarts Figur, als sie ins Bad geht, um die Frisur nach seinem Wunsch zu ändern.

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62 Jahre später darf sie ihr Haar wieder offen tragen – und wird von einer braunhaarigen Frau umarmt. Dabei handelt es sich um die New Yorker Musikerin Katie von Schleicher, die die alternative Version für das Cover ihres gerade erschienenen zweiten Albums „Consummation“ (Full Time Hobby) inszeniert hat.

Von Schleicher hatte sich „Vertigo“ kürzlich noch einmal angesehen und war verblüfft über den größtenteils unanalysierten Missbrauchssubtext des Thrillers. Er kam ihr auf ungute Weise bekannt vor, inspirierte und motivierte sie beim Schreiben der Songs.

Und so tritt ihre Platte in einen assoziativen Dialog mit Hitchcocks Werk, nimmt Themen wie das Nicht-Gesehenwerden wieder auf und versucht sich an neuen, besseren Wendungen.

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In dem leichtfüßigen „Wheel“, das von einem krautrockigen Schlagzeug angetrieben wird, singt sie etwa von den Möglichkeiten der Imagination und folgert im Refrain: „If you tell me it’s a wheel/ Can we turn it around.“ Wenn es ein Rad ist, können wir es drehen – und eben auch mal woandershin steuern.

Das beherzigt Katie von Schleicher, US-Amerikanerin mit deutschem Künstlerinnen-Namen, auch selber. Nahm sie ihre Debüt-EP vor fünf Jahren genau wie ihr erstes langes Album „Shitty Hits“ (2017) noch im Alleingang bei sich zu Hause auf, hat sie nun diverse Musiker dazugebeten und sich auch mal in ein Studio begeben.

So hat der ruppige Lo-Fi- Charme ihrer früheren Veröffentlichungen deutlich abgenommen, ohne dass „Consummation“ nun nach Hochglanzpop klingt. Der Sound und das Songwriting sind nach wie vor von Widerständigkeit geprägt, ein ständiges Hakenschlagen zeichnet dieses vor Ideenreichtum berstende Album aus.

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Dem garagenrockigen Song „Hammer“ mischt Katie von Schleicher zarte Folkpop-Elemente unter, wechselt zwischen wütendem E-Gitarren-Fauchen und feinem Akustikgitarren-Picking. Und das völlig bruch- und anstrengungslos.

Ganz anders dann „Messenger“, einer der schönsten Songs des Albums, der mit einem verhaltenen Drummaschine-Beat und träumerischen Yacht-Rock-Orgelakkorden beginnt. Katie von Schleichers effektvoll verdoppelter Gesang schwebt darüber wie eine elegante Möwe. Die E-Gitarre darf kurz einen mürrischen Kommentar einstreuen – und dann ist nach etwas mehr als zweieinhalb Minuten leider schon wieder alles vorbei.

Ihre Stimme hat einen enormen Umfang

Katie von Schleicher fasst sich ohnehin gerne kurz, was der Intensität ihrer Lieder jedoch keinen Abbruch tut. In kaum drei Minuten erschafft sie beispielsweise mit „Brutality“ – das sie als thematisches Kernstück des Albums bezeichnet –, das verstörende Porträt einer dysfunktionalen Beziehung.

Dabei schöpft sie den enormen Umfang ihrer Stimme voll aus, dessen oberes Ende sie mit den sarkastischen Refrainzeilen („Sure climbing is fun, I’m having fun/ Wow, falling is fun, falling is fun“) erreicht. Wie in „Vertigo“ liegt in der Höhe das Trauma und der Tod. In der Finalszene stürzt Kim Novak vom Glockenturm, James Stewart schaut ihr hinterher.

Katie von Schleicher hat für „Consummation“ ebenfalls kein Happy End geschrieben: Der an Aimee Mann erinnernde Abschlusssong trägt den Titel „Nothing Lasts“ und verbreitet verzückende Vanitas-Melancholie. Fortsetzung folgt hoffentlich bald.

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