zum Hauptinhalt
Die US-amerikanische Ban Big Thief.

© Michael Buishas

Neues Album von Big Thief: Vom Wald in die Wüste

Die New Yorker Band Big Thief bringt mit „Two Hands“ ihr zweites fabelhaftes Indiefolk-Album in diesem Jahr heraus. Damit geben sie dem Genre eine hinreißende Bescheidenheit zurück.

Die ungeschriebenen Regeln der Kulturindustrie sind eigentlich klar definiert: Mindestens zwei Jahre Abstand zwischen zwei Alben, eine Tour zu jeder Veröffentlichung, gepaart mit mehreren Singleauskopplungen. Die Mitglieder von Big Thief scheinen bei ihrem Besuch des Berklee College of Music in Boston nicht sonderlich gut aufgepasst zu haben. Was für ein unfassbares Glück, denn sonst wäre das Musikjahr 2019 wohl um einen seiner vorläufigen Höhepunkte gebracht worden.

Nur fünf Monate nach ihrem gefeierten dritten Album „U.F.O.F.“ präsentiert das Quartett bereits dessen Nachfolger „Two Hands“ (beide 4AD). Zählt man das Soloalbum „Abysskiss“ von Sängerin Adrianne Lenker hinzu, sind es gar drei Alben in einem Jahr. Selbst das ist nur ein Ausschnitt aus der ausufernden Produktivität der 28-jährigen Frontfrau.

Die zehn Stücke auf „Two Hands“ sind das Ergebnis eines Selektionsprozesses aus knapp 50 Songs, die Lenker in zwei Jahren geschrieben hat. Umso erstaunlicher, da ihre Band unentwegt auf Tour ist. Und so sind viele der Lieder auf „Two Hands“ seit langem im Live-Repertoire, nahmen von Abend zu Abend Gestalt an.

Im Opener „Rock And Sing“, gewährt Lenker einen Einblick in die Intimität des Gefüges von Big Thief: „I don’t want to be scared of anybody coming in. I don't want to lock my door anymore. Hand me that cable. Plug into anything. I am unstable. Rock and sing.“ Das Bandleben als fortwährende Gruppentherapie.

Lenker wurde in eine christlich-fundamentalistischen Sekte in Indianapolis hineingeboren, zog im Laufe ihrer Kindheit mehr als ein dutzend Mal um. Nur die Musik blieb eine Konstante in ihrem Leben. Ihren ersten Song schrieb sie mit acht, mit 13 veröffentlichte sie das erste Soloalbum. Schon früh versuchte sie ihr Vater zu einem Teenagerstar aufzubauen. Bis Lenker die erdrückende Erwartungshaltung im Verbund mit den familiären Verstrickungen durchbrach und auszog.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

„The wound has no direction. Everybody needs a home and deserves protection“, singt Lenker, begleitet von einem dahintrottenden Schlagzeug und einer fuzzigen Gitarre in „Forgotten Eyes“. Ein Manifest für die Obdachlosen dieser Welt, zu denen sich die Sängerin trotz des Erfolgs noch immer zählt. Die sonst eher introspektiv arbeitende Gruppe präsentiert sich auf „Two Hands“ deutlich politischer. So behandelt „The Toy“ die Waffenproblematik in den USA, „Shoulders“ handelt von Polizeigewalt und „Cut My Hair“ thematisiert fluide Gendergrenzen.

Adrianne Lenkers Stimme ist dringlich und fragil zugleich

Auf Bildern sind die vier Musiker meist umschlungen zu sehen, die Köpfe dicht beieinander. Big Thief verkörpert den längst vergessenen geglaubten Topos einer Band, die nicht nur gemeinsam musiziert, sondern auch ein Leben teilt. „Es ist wirklich schwer, fünf Jahre lang mit einer Gruppe von Menschen in einem Van wie Astronauten zu leben. Ich denke, die einzige Hoffnung ist, transparent und offen mit jedem Gefühl umzugehen und die Dinge mit Geduld und Liebe durchzuarbeiten“, erklärte Gitarrist Buck Meek jüngst in einem Interview. Lange bevor Bassist Max Oleartchik und Schlagzeuger James Krivchenia dazu stießen war er bereits mit Lenker als Duo unterwegs.

Schon damals stand die famose Stimme der Sängerin im Mittelpunkt ihrer Auftritte. Nicht schön im klassischen Sinn, doch getragen von einer Dringlichkeit und gepaart mit einer ergreifenden Fragilität, kann sie aus einem wehklagenden Hauchen in einen ungestümen Aufschrei umschlagen, ohne auch nur einen Deut an Anmut einzubüßen.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Wo „U.F.O.F.“ noch unergründlich nebulös klang, phasenweise gar beklemmend, präsentieren sich die Songs auf „Two Hands“ als transparente Indiefolk- Perlen. Der Kontrast erstaunt umso mehr, da beide Alben im Abstand von nur wenigen Tagen aufgenommen wurden. Ersteres in einer kleinen Hütte in den verregneten Wäldern von Washington State im äußersten Nordwesten der USA, zweiteres in der Gluthitze der texanischen Wüste.

Sehr trocken, kein Hall, nur Haut und Fleisch und Mensch

Meek erklärte das ungewöhnliche Prozedere: „Es gab diese wirklich unterschiedliche Polarität zwischen jenen Liedern, die ein offenes, himmlisches Gefühl hatten, und jenen Liedern, die eine erdige, kathartische Innerlichkeit hatten.“ Lenker pflichtete gegenüber dem Onlinemagazin Stereogum bei: „,Two Hands’ ist die Nahaufnahme, die in das Blut, das Gewebe und die Eingeweide des menschlichen Daseins zoomt, die rohen, bloßen, nackten Knochen, wenige Schichten, die nur unsere Performance im Raum festhalten, sehr trocken, kein Hall, nur Haut und Fleisch und Mensch, begrenzt, physisch.“

Der Weltschmerz und die Sehnsucht nach Halt findet seine Vollendung im grandiosen Herzstück der Platte „Not“. Eine Ode an die Negation, die von Feedback-Geräuschen begleitet minutenlang auf ein Finale zusteuert, dass auch ein Neil Young nicht besser hätte inszenieren können. Bewusst lässt die Band dabei Raum für Dissonanzen und vermeintliche Makel.

Nach Jahren, die dominiert waren vom totproduzierten, stampfigen Wumms gelingt es Big Thief dem Folk wieder eine hinreißende Bescheidenheit zu verleihen. Mögen sie all den Mumford & Sons und Of Monsters and Men in Zukunft die Schau stehlen – diesen Dieben sollte man getrost vertrauen.

Zur Startseite