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Gut geölte Maschine. Bruce Springsteen und die E Street Band im Studio, wo sie „Letter To You“ an fünf Tagen einspielten.

© Sony

Der Boss meldet sich zurück: Es war einmal Amerika

Gott, Geister und Gitarren: Bruce Springsteens Album "Letter To You" ist eine Hommage an den Rock'n'Roll. Ein Film zeigt die Entstehungsgeschichte.

Der Mann redet, die anderen hören zu. Sie nicken, sie lachen, er gibt die Einsätze. Gelegentlich kommt einer aus der Gruppe zu Wort, und auch die Frau des Mannes, den man den Boss nennt, hat mal ein, zwei Sätze, eher anekdotisch.

Man sieht ihm auch häufig beim Nachdenken zu. Seine geschlossenen Augen, die vorgeschobene Unterlippe, der jugendlich kurze Haarschnitt des 71-Jährigen signalisieren Entschlossenheit, zugleich leisen Weltschmerz. Draußen fällt Schnee. Winter in New Jersey.

Springsteens Studio auf seiner Farm in Colts Necks

Bruce Springsteen besitzt in Colts Neck, südlich von New York City, eine große Farm mit Pferden und einem Aufnahmestudio. Dort entstand im November 2019 das neue Album „Letter To You“, das erste seit sechs Jahren mit der E Street Band.

Fünf Tage dauerten die Sessions, keine Overdubs, im Grunde ein Live-Erlebnis mit den Musikern, die seit über 45 Jahren zusammenspielen. Ein Treffen alter Herren, dokumentiert in dem Apple TV-Film gleichen Namens.

Ein Brief an dich, an die Geliebte, an die Fans. Oder doch eher ein Brief an sich selbst, Springsteen im Selbstgespräch, getragen von diesen ebenso loyalen wie erstklassigen Instrumentalisten, die hier alle einmal genannt sein sollen: Roy Bittan (Piano), Jake Clemons (Saxofon), Charles Giordano (Organ), Nils Lofgren (Gitarre), Steve van Zandt (Gitarre), Garry Tallent (Bass), Max Weinberg (Schlagzeug), Patti Scialfa (Gesang). Eine Familie. Mit einem Oberhaupt, das sich zunehmend spirituell artikuliert.

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Der Boss hat in den zurückliegenden Jahren gemacht, was älteren Rockstars seiner Klasse so einfällt: Rundfunkshows, jüngst auch bei Radio eins zu hören, eine Autobiografie geschrieben, Auftritte am Broadway mit persönlichen Geschichten und musikalischen Soli. „Letter To You“ (Sony/Columbia) durchweht ein Gefühl der Endlichkeit, des kraftvollen, aber auch schon angeschlagenen Alters.

Es war der Tod eines Freundes aus Jugendtagen, George Theiss, der Springsteen zum Schreiben dieser neuen Songs brachte. Theiss war der Boss der ersten Band, in der Springsteen spielte, Mitte der Sechziger, sie nannten sich The Castiles. Und nun ist Bruce Springsteen der „Last Man Standing“, letzter Überlebender der Jungs von der Küste. Melancholische Grüße nach Asbury Park! Springsteen schafft es auch hier wieder, letztlich von sich selbst zu singen, wenn es eigentlich um andere geht.

Aber das Album wächst über ihn hinaus, es erweist sich schnell und energetisch als Hommage an den Rock’n’Roll, von dem Bruce Springsteen sagt, er könne die Kraft eines Gebets entfalten. Dazu vergleich er die E Street Band mit einer fein getuneten Rennmaschine. Songs wie das Titelstück und „I’ll See You In My Dreams“ beweisen die unerschütterliche E Street Credibility.

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Seit Jahrzehnten hat ihre Musik diesen Vorwärtsdrang, diese Fähigkeit zur Beschleunigung, satte Arrangements, die traurige Stories anheben, die abheben wie Gospels in der Kirche. In „If I Was The Priest“ trifft er Jesus und Sweet Virgin Mary unter „Bad Boys“ im ewigen Wilden Westen. Man hört es verdammt wieder gern, diese klassische Welle, die einen mitnimmt. So vertraut klingt das saubere Dutzend der neuen Songs; drei Nummern stammen aus den Siebzigern, als alles begann.

Der bestens gepflegte Band-Motor schnurrt, Spring steens Organ kann immer noch Stadien erschüttern, wenn es eines Tages wieder dazu kommt. Die Schatten werden länger. Die Toten leben unter uns. Davon erzählt Springsteen in „Ghosts“. Diese Geister leben und beben.

Das Album fühlt sich zutiefst amerikanisch an

Aus ganz unterschiedlichen Gründen fühlt sich „Letter To You“ zutiefst amerikanisch an, schon wegen der Grundierung durch Religion. Und dann spürt man, verstärkt durch das patinahafte Schwarzweiß des Dokumentarfilms, die Sehnsucht nach einer Zeit, als die hier besungenen Toten am Leben waren, nach den Siebzigern, als der von Pop und Jazz begeisterte Jimmy Carter Präsident der Vereinigten Staaten war und der sehr junge Springsteen von einem Kritiker als „Zukunft des Rock’n'Roll“ ausgerufen wurde.

Das Album blickt dahin zurück, wo es überhaupt ein Gefühl für Zukunft gab, persönlich und gesellschaftlich. Mehr oder weniger unausgesprochen dreht es sich um das Amerika, das uns alle anzog, das Faszination und Verheißung war, Befreiung, Weite. „Badlands“, aber auch „The Promised Land“, in alten Springsteen-Songs zum Mitsingen.

Dieser Boss hat sich immer gern als Schutzengel der einfachen Leute, der Arbeiterklasse gesehen. Hemdsärmelig, ein Typ von nebenan, der sich ordentlich verausgabt in den Konzerten und den Menschen eine Menge bietet für ihr Geld.

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So hat sich vor der Wahl 2016 auch Donald Trump als einer stilisiert, der die Abgehängten rettet. Springsteen steht den Demokraten nahe. Und da muss es überraschen, wenn das im Oktober 2020 veröffentlichte neue Album offensichtlich so unpolitisch erscheint. Von dem Lügner und Verderber im Weißen Haus kein Wort. Und auch sonst nichts zur Lage.

Oder doch? Zeigt „Letter To You“ vielleicht die Politikferne, die man in den USA fast überall antrifft? Jetzt allerdings nicht mehr so. Es ändert sich, Millionen Menschen machen sich bereits zum Early Voting auf. Hat Bruce Springsteen etwas verpasst? Gleichzeitig durchdringt das Album eine Empathie, eine profunde Menschlichkeit, die der bigotten und zynischen republikanischen Mentalität entgegensteht.

[Das Album "Letter To You" erscheint am kommenden Freitag bei Sony, der Film zeitgleich bei Apple TV]

Noch anderthalb Wochen bis zur Wahl: Da ist die Frage erlaubt, ob Trump unbedingt überall drauf und drin sein muss. Ob es notwendig ist (unerträglich sowieso), dass sein medialer Stempel alles verschmutzt. Ob das orange Monster sich nicht eben von dieser permanenten Aufmerksamkeitserweisung, ob kritisch oder nicht, ernährt. Jetzt also mal ohne.

Springsteen, inzwischen zum Psalmodieren neigend, wünscht uns am Ende der Apple-Doku Gottes Segen. Ein dünner Trost, wie der Film überhaupt der Musik einiges wegnimmt. Der Boss hier, der Boss dort, der Boss überall, ein reicher, erfolgsgesättigter Mann über Siebzig, ein riesenhaftes Ego „Born in the USA“, sich in Demutsgesten übend, nach einer selbst für amerikanische Verhältnisse unglaublichen Karriere, so ausdauernd und solide, so ehrlich wie dabei nur möglich.

Bruce war 15, als Bob Dylan „With God On Our Side“ deklamierte, eine bittere US-Geschichtsstunde. Überhaupt: Wo ist in diesem Schicksalswahlkampf der Literaturnobelpreisträger?

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