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Die 1978 in Ulm geborene und in Berlin lebende Schriftstellerin Verena Güntner.

© Stefan Klüter/Verlag

Neuer Roman von Verena Güntner: Die Anziehungskraft des Radikalen

Wenn Kinder zu Revolutionären werden: Verena Güntners packender Landleben-Thriller „Power“.

Von Jonas Bickelmann

Man könnte meinen, Verena Güntner habe mit „Power“ ganz bewusst, voller Kalkül einen dem Zeitgeist entsprechenden Roman geschrieben. Abgehängte Menschen vom Land, schwere Konflikte zwischen den Generationen, die Frage nach dem Umgang mit der Natur – alles Themen, die unsere Zeit prägen und die Güntner in ihrem gerade einmal 250 Seiten umfassenden Buch bearbeitet. 

Doch „Power“ ist ein sehr guter Roman geworden, nicht umsonst war die Berliner Schriftstellerin damit für den Belletristik-Preis der ausgefallenen Leipziger Buchmesse nominiert.

Ihre Hauptfigur hat Güntner Kerze getauft. Kerze ist elf Jahre alt und sieht in ihrem Kinderzimmer unentwegt Gespenster, kommt damit jedoch meistens klar. „Kerze“, dieser profane und zugleich poetische Name setzt den Ton des Romans, in dem die Provinz stets beides ist: aufs Scheußlichste alltäglich. Und Ort des Märchenhaften.

Aus der Norm fallen auf dem Dorf

Kerze sucht den Hund der Hitschke, einer einsamen Witwe aus ihrer dörflichen Nachbarschaft. Der Hund hat einen gleichermaßen profan-poetischen Namen wie sie selbst, überdies den Titel gebenden „Power“. Dass der Hund das englische Wort für Macht als Namen trägt, ist eine der vielen symbolischen Aussagen des Romans.

Power ist am Anfang der Handlung verschwunden, und Kerze macht die Suche nach dem Tier zu ihrer großen Aufgabe, die Güntners Geschichte Struktur und Spannung verleiht. 

Der erste von zwei Teilen ist gesellschaftskritisch-realistisch erzählt, dabei auch etwas gemächlich. Er handelt davon, wie es heute ist, wenn man als Mädchen aus der Norm fällt und in einem Dorf aufwächst. 

Kein warmherziger Umgang

Die weiteren Figuren passen gut zu dieser Konstellation: der „Hubersohn“ vom Bauernhof, der immer zu kurz kommt und den niemand bei seinem Vornamen nennt. Und die Zugezogenen aus der Stadt, die das Dorf als Gemeinschaft von Menschen gar nicht recht zu interessieren scheint. 

Nur: Gibt es überhaupt eine dörfliche Gemeinschaft? Sind sich die Menschen hier nicht ebenso fremd wie in der Großstadt? Sie leben weniger anonym, das schon, aber von einem warmherzigen Umgang kann keine Rede sein.

Kerze wirkt in diesem Dorf wie eine etwas schrullige, aber identifikationstaugliche Figur, und so hätte „Power“ ein konventioneller Roman mit einer Anti-Heldin werden können. Doch Güntner hat mehr im Sinn. 

Kinder knurren Eltern an

Ihr Roman entwickelt sich im zweiten Teil zu einem gruseligen Märchen, inklusive ganz viel Körperhorror. Daher stört es nicht, dass die große, plötzliche Wendung des Geschehens unrealistisch wirkt. 

Nach und nach schließen sich immer mehr Kinder aus dem Dorf Kerzes Suche nach Power an, sie machen einen Kult daraus. Es dauert nicht lange, und alle Kinder begeben sich in den Wald und kehren von dort nicht mehr zurück. Schon zuvor begannen sie, sich hündisch zu verhalten. Sie knurren die Eltern an, verweigern die Kommunikation.

Ihre Motivation dazu wird nicht recht klar. Rebellion gegen die Abgründe der dörflichen Gesellschaft, gegen den Kapitalismus gar? Nein, es ist eher Kerzes eigenartiges Charisma, das die Kinder lockt, kein politisches Aufbegehren.

Moderne Sehnsüchte

So waren drei andere Mädchen eigentlich Kerzes Feindinnen, blickten auf die Außenseiterin herab, jetzt unterwerfen sie sich ganz freiwillig ihren Befehlen. Hier im Wald ist auf einmal alles zu spüren: echte Gemeinschaft, Nähe, Sinn. 

Kerzes Kindergruppe verkörpert viele moderne Sehnsüchte. Aber eben auch ihre Schattenseiten. Denn die Elfjährige hat Power, den Hund, zwar nicht gefunden, aber sie hat auf einmal Macht. Wenn sich jemand ihrem Führungsanspruch widersetzt, verhängt Kerze brutale Strafen.

Gleichzeitig vereinen die Kinder mit ihrer Aktion auch die Erwachsenen auf zuvor nie gekannte Art. Pläne werden geschmiedet, Väter schwingen sich zu Beschützern der Gemeinschaft, der Familie, vielleicht der Zivilisation auf.

Darstellung eines klischeefreien Landlebens

Zwei der Dorfbewohner fallen aus dieser Gemeinschaft heraus, nämlich der Hubersohn vom Bauernhof und die Power-Besitzerin Hitschke. Sie beide haben eigentlich eine Verbindung, eine gemeinsame Liebe, könnte man sagen, zu ein und demselben Menschen.

Aber diese Frau ist gestorben und hat sie alleine zurückgelassen. Güntner schildert das Abgründige ihrer Biografien präzise. Sie verfällt dabei weder in Rührseligkeit noch in Elendspornografie. So ist der 1978 in Ulm geborenen Verena Güntner etwas gelungen, das viele Kunstschaffende umtreibt, ihnen jedoch selten gelingt: die Darstellung eines klischeefreien Landlebens.

Spannung bis zum Schluss

In einer durchschnittlichen „Tatort“- Folge würde die Handlung auf ein absehbares Ende zulaufen. Kerze, die Rattenfängerin, bekäme irgendwann von beherzten Erwachsenen Einhalt geboten. Und die Ordnung wäre wieder hergestellt. Die Hitschke würde an der Tragik ihres Lebens elendig zugrunde gehen.

So endet „Power“ aber nicht. Güntner hält die Spannung bis zum Schluss, der ein tröstlicher ist. Ausführlich erzählt dieser Roman von niederen Instinkten im Menschen, von der Anziehungskraft des Radikalen. Doch am Ende ist es ein gar nicht so altmodischer aufklärerischer Wert, der den Wahnsinn stoppt: Wahrheit. Die Wahrheit über Power.
Verena Güntner: Power. Roman. DuMont Verlag, Köln 2020. 224 Seiten, 22 €.

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