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Gefallener Klosterschüler. Thomas Hürlimann ist nicht mehr demütig.

© picture alliance / dpa

Neuer Roman von Thomas Hürlimann: Der Meistererzähler

Thomas Hürlimann hat einen Roman vorgelegt, der Heiligen-Legenden des Katholizismus durchbuchstabiert und in große Literatur verwandelt.

Die fromme Verehrung der Jungfrau Maria kann sich ein Schriftsteller heute eigentlich nicht mehr leisten. Der institutionalisierte Katholizismus gilt derzeit – mit guten Gründen – als patriarchale Macht-Bastion, die für sexuelle Gewalt an Schutzbefohlenen und für schwarze Pädagogik der übelsten Sorte verantwortlich ist.

Wenn ein zeitgenössischer Schriftsteller seine Bilderwelt großenteils auf der katholischen Ikonographie aufbaut, gerät er daher leicht in Anachronismus-Verdacht. Nun hat der Schweizer Meistererzähler Thomas Hürlimann einen Roman vorgelegt, der zentrale Heiligenlegenden des Katholizismus durchbuchstabiert und in große Literatur verwandelt.

„Der Rote Diamant“ erzählt nicht nur eine klassische Internats-Geschichte, sondern entfaltet einen turbulenten wie grotesken Historien-Thriller um einen verschollenen Diamanten aus dem Kronschatz der letzten österreichischen Kaiserin. Schauplatz ist das berühmte Kloster Einsiedeln in der Zentralschweiz, das im Roman Maria zum Schnee heißt. Wie nebenbei wird auch der Untergang einer alten Welt erzählt: der Zusammenbruch der historisch obsoleten Machtinstitutionen Kirche und Kaiserreich.

Und auch das Heraufdämmern der Studentenrevolte klingt an, wenn in einigen Winkeln des Klosters Bob Dylans melancholische Protest-Hymne „The Times They Are a-Changin’“ ertönt. Dies alles gestaltet Hürlimann mit einer bemerkenswerten Leichtigkeit und einem slapstickverliebten Humor, der dem Stoff jedes falsche Pathos austreibt.

Die Reminiszenzen an die Legende vom heiligen Gral und an Umberto Ecos Kloster-Krimi „Der Name der Rose“ sind Bestandteil des virtuosen Spiels. Zugegeben: Es ist nicht das erste Mal, dass Hürlimann seine Zeit als Klosterschüler in Einsiedeln rekapituliert. Dort sei er mit einem vierkantigen Lineal zum Dichter geschlagen worden, erklärte er etwa 2008 in seinem Essay „Schreiben“. Acht Jahre lang hat er ab Herbst 1963 das strenge Gewaltregiment der Benediktinermönche ertragen, das auf die Auslöschung der Individualität zielte und die Zöglinge auf eine Existenz in Demut und Mittelmaß verpflichtete.

Im Roman verläuft hier alles in der zyklischen Wiederkehr des Immergleichen: Morgengebet, Studium, geistliche Gespräche, ein karges Essen. Dies alles nur in der Gruppe, denn Einzelgespräche stehen unter dem Verdacht homosexueller Verfehlungen. Jede Abweichung im Klosteralltag wird streng geahndet, jeder aufrührerische Gedanke im Keim erstickt. Mit dem autoritären Klosterbruder Frieder, der als furchterregender Herrscher im Barockkloster agiert, hat Hürlimann einen veritablen Antihelden installiert.

Denn Bruder Frieder hat schon eine mörderische Karriere hinter sich, als er ins Kloster eintritt. Der gelernte Metzger exponierte sich als williger Vollstrecker der nationalsozialistischen Gewaltpolitik. Als SA-Mann ermordete er einen jüdischen Baron. Kaum verwunderlich, dass einige Klosterschüler aufbegehren. Sie versuchen in aufwändigen Recherchen das Versteck des geheimnisvollen Roten Diamanten aufzuspüren, der laut einer Legende im Kloster versteckt ist.

Die Lebensrettung nach einem schweren Autounfall

Als selbstbewusster Wortführer tritt hierbei Hürlimanns Alter Ego auf, Arthur Goldau, dessen Namen der Autor offenbar einem Bahnknotenpunkt im Kanton Schwyz entnommen hat. Im Fortgang des Romans nimmt diese Suche nach dem Diamanten immer skurrilere Züge an. Hürlimann hat ein enormes Vergnügen daran, die Legende um den verschollenen Diamanten mit der Verfallsgeschichte der Donaumonarchie zu verbinden.

Die letzte österreichische Kaiserin Zita besuchte mitsamt ihrer Entourage jedes Jahr das einst von den Habsburgern gegründete Kloster, um dort eine Seelenmesse für ihren früh verstorbenen Gatten Kaiser Karl I. lesen zu lassen. Die Schilderung der bizarren Irrfahrt des Diamanten von der ägyptischen Herrscherin Cleopatra bis hin zur monarchischen Schatzkammer in der Wiener Hofburg gehören zu den komödiantischen Höhepunkten des Romans.

Im Zentrum des Buches steht indes ein eminent katholisches Motiv: das berühmte Gnadenbild der Himmelskönigin, die Statue der Schwarzen Madonna, die im Kloster Einsiedeln bis heute das Ziel einschlägiger Wallfahrten ist. Über die Geschichte der Marienverehrung hat Hürlimann schon einige Texte verfasst.

Die Lebensrettung nach einem schweren Autounfall führte er im Essay „Berliner Madonna“ (2013) auf das Einwirken marianischer Kräfte zurück. In der „Der Rote Diamant“ ist die Madonna nicht nur eine heilsgeschichtliche, sondern auch eine erotische Figur.

Der neue Roman
Der neue Roman

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Einige Klosterbrüder erwählen sie als das Objekt ihrer Begierde, sowohl die Mutter des Ich-Erzählers als auch die erste Geliebte des Protagonisten Arthur Goldau werden in einen Assoziationszusammenhang mit der Gottesmutter gerückt. Und selbst der kriminalistische Plot des Romans ist mit der Schwarzen Madonna verbunden. Im Schlusskapitel, in dem der Erzähler nach vielen Jahren an den Ort seiner rigiden Erziehung zurückkehrt, zündet Hürlimann noch einige dramatische Pointen. Ein ehemaliger Mitschüler fällt wie die Madonna einer Explosion zum Opfer.

Aber trotz aller heiteren Volten, die der Roman im Blick auf die Schwarze Madonna schlägt, ist das kunstvolle Spiel mit Fragen der Transzendenz, das Hürlimann hier betreibt, nicht zu übersehen. Bereits der erste Satz des Romans zitiert eine Sentenz aus dem Lukas-Evangelium, nämlich den Gang zweier Jünger mit dem auferstandenen Christus von Jerusalem nach Emmaus : „Ich wandelte als ein Fremder unter ihnen.“ In einer zentralen Passage des Romans hält ein Mönch eine Wutrede und schleudert den Zöglingen einen bemerkenswerten Satz entgegen: „Man kann nicht Dichter sein und katholisch“. Thomas Hürlimann ist es mit seinem neuen erzählerischen Meisterstück gelungen, das Gegenteil zu beweisen.

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