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Winke, winke, Waschbär.

©  Lenhard Klimek/dp

Neuer Roman von Thomas Brussig: Kafka im Dschungelcamp

Menschen werden Waschbären: Thomas Brussig hat mit „Die Verwandelten“ mal wieder einen vergnüglichen Roman geschrieben.

Im Fall des Schriftstellers Thomas Brussig ist es nicht unwahrscheinlich, dass aus seinem neuen Roman auch einmal ein Drehbuch wird. Das könnte so einsetzen: 18. Mai 2024, Doug Winter, „Gewohnheitssarkastiker“. Winter streift durch die Rocky Mountains, am Ende seiner Kräfte, knapp am Verdursten, aber er gibt nicht auf. Denn er will die hiesige Waschbär-Population erforschen und dem so- genannten Putensen-Syndrom mit aller Macht auf die Spur kommen.

Die Szene gäbe den Rahmen ab für die in Rückblick und Vorschau erzählte Geschichte von zwei halb verliebten Jugendlichen, die am 13. August 2023 aus lauter Langeweile mit ihren Fahrrädern in einem mecklenburgischen Kaff namens Seenot in einer Autowaschanlage landen und sich im Bruchteil einer von den Überwachungskameras nicht erfassten Sekunde in zwei Waschbären verwandeln.

Brussig misst sich an seinem literarischen Vorbild

Zu bizarr für einen Schriftsteller, der sich mit der Nobilitierung des Unglaubwürdigen einen Namen gemacht und noch die absurdeste Story auf den Kern deutsch-deutscher Befindlichkeiten zurückgeführt hat? Dieses Mal misst sich Thomas Brussig allein mit dem Titel „Die Verwandelten“ an einem großen literarischen Vorbild.

Aber anders als die in Abgründe führende Verwandlung Gregor Samsas in ein Ungeziefer, wirkt die „rabiate“ Metamorphose von Fibi Hüveland und Aram Stein in zwei kuschelige Waschbären erst einmal burlesk. Sie ist Ergebnis einer juvenilen internetbeförderten Mutprobe, auf die beide Familien unterschiedlich reagieren.

Die Tochter frisst wie ein Tier

„Unsere Familie“, ruft Wiebke Hüveland, Kinderpsychologin, als sie erstmals mit ihrer tierisch fressenden Tochter am Frühstückstisch sitzt, „unsere Familie ist mit einem Mal an die Frontlinie von Natur und Zivilisation geraten.“ Bei aller Liebe zu Fibi ist Wiebke entschlossen, den zivilisatorischen Standard zu verteidigen. Vater Hilmar, Typus Macher und Chef im mecklenburgischen Bräsenfelde und von vier weiteren Dörfern denkt dagegen pragmatisch: Wie kommt Fibi aus dieser Nummer wieder raus?

Er schaltet einen pfiffigen Anwalt ein, lässt Fibi bei seinem Schwager Putensen durchchecken und versucht den Anstifter der Internetanleitung auf Trab zu bringen. Der allerdings wähnt sich bei „Verstehen Sie Spaß“ und wirbelt sein schwäbisches Dorf durcheinander.

Das alles ist überdreht und mit viel Lust am Spiel im Spiel erzählt, der rasante, aus unterschiedlichen Perspektiven erzählte Hauptteil des Buches umfasst gerade mal zehn Tage.

Schriftsteller Thomas Brussig wurde 1964 in Berlin geboren.
Schriftsteller Thomas Brussig wurde 1964 in Berlin geboren.

© Tobias Schwarz/AFP

[Thomas Brussig: Die Verwandelten. Roman. Wallstein-Verlag, Göttingen 2020. 326 Seiten, 20 €.]

Bei den Steins macht sich nach der ersten sprachlosen Überraschung Depression breit. Im Gegensatz zu Fibi kann und will der fußballambitionierte Sohn nicht mehr sprechen, lediglich mit Fibi kommuniziert er noch. Er und seine Eltern fallen deshalb „rabiat“ – Arams Lieblingswort – durchs Raster, als die Hüvelands und ihr Anwalt beginnen, aus Fibi eine Marke zu machen und Bräsenfelde mit Unterstützung des Reality-TV touristisch zur Blüte zu bringen: Ein sprechender Waschbär, das hat Marketingpotential. Während Fibi geliebtes, aber auch prominentes und gewinnträchtiges Mitglied der Familie bleibt, wird Aram eher zum Haustier.

Auch ein Quantum Ernst destilliert Brussig heraus

Nun wäre Brussig nicht Brussig, würde er aus der Komödie nicht noch ein Quantum Ernst destillieren. Das macht er dieses Mal gar nicht so versteckt, sondern ziemlich aufdringlich, qua innerer Monologe und viel Räsonnement. Denn natürlich muss es in einer solchen Geschichte um die Identitätsprobleme gehen, die Mischwesen wie Fibi und Aram zwingenderweise haben.

„Dass sich zwei Menschen in Waschbären verwandeln, war gerade noch hinnehmbar, aber wieso hatte Waschbär Fibi Identität?“, fragt sich Fibis Medizinonkel Putensen. Kann man bei solchen Zwittern überhaupt von Wesen mit Persönlichkeitsrechten ausgehen, und sind die Steins und Hüvelands noch erziehungs- und einnahmeberechtigte Eltern? Kommt eigentlich die Krankenkasse für die Untersuchung eines Waschbären auf?

Eine juristische Lebensaufgabe für Anwalt Ahlert, der früher einmal mit der gesetzlich abgesicherten „Hilfestellung bei der Ausgestaltung korruptionsartiger Abläufe“ befasst war. Deshalb widmet er sich zunächst lieber der Verwertung des öffentlichen Interesses an den beiden Waschbären.

Die Waschbärmania erfasst das Land

Und die kommt dank TV-Frau Heidi Walissa, die das Hüveland’sche Familiennest in ein Waschbär-Dschungelcamp umbaut, auch in Fahrt. Die „Waschbärmania“ erfasst das ganze Land. Dank Fibis Prominenz bleibt die Freundschaft auf der Strecke, als älter werdende Waschbärin misst sie ihre Lebenserwartung aus, während Aram einem traurigen Schicksal entgegensieht.

Die Botschaften Brussigs sind gewollt banal – und unbestreitbar: „Du lebst nur einmal“, lässt Fibi ihre Fans wissen. „Und jede Minute deines Lebens ist weg, wenn sie vorbei ist. Und wenn ich was Besonderes bin, dann ist jeder Mensch was Besonderes.“ Die wirklich wichtigen Dinge kann aber auch Fibi nicht sagen, „wozu dann überhaupt noch reden?“

Was bleibt, ist der menschliche Spieltrieb, den Aram seinen Waschbär-Freunden partout nicht beibringen kann. Eben dieser Spieltrieb macht diesen Brussig-Roman zu einem wirklichen Vergnügen. Ulrike Baureithel

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