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Der Schweizer Schriftsteller Peter Stamm, Jahrgang 1963.

© Stefan Kubli

Neuer Roman von Peter Stamm: Das Ich und sein Doppelgänger

Ein Ende haben Geschichten nur in Büchern: Peter Stamms Roman „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“.

In Samuel Becketts Einpersonenstück „Das letzte Band“ sitzt der gealterte Schriftsteller Krapp am Schreibtisch und hört die auf Tonband gesprochenen Tagebuchaufzeichnungen ab, die mehr als dreißig Jahre alt sind. Vor allem eine Liebesszene ist es, die er immer wieder abspielt, um dann zu dem Schluss zu kommen: „Kaum zu glauben, dass ich je so blöd war.“ Der Schriftsteller blickt auf sich selbst und sein eigenes Schreiben zurück; er sieht die Person, die er einmal war, im Spiegel dessen, was aus ihr geworden ist. Und er erkennt, dass das Warten auf die künstlerische Vollendung nichts anderes war als eine Zeitverschwendung.

Der Schweizer Schriftsteller Peter Stamm hat seinem neuen, schmalen Roman „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ ein Motto aus Becketts Stück vorangestellt, ein Zitat aus besagter Liebesszene in einem Kahn: „Wir lagen regungslos da. Aber unter uns bewegte sich alles und bewegte uns, sanft, auf und nieder und von einer Seite zur anderen.“ Die Regungslosigkeit und das Bewegtwerden. Die eigene Passivität und das,was mit Begriffen wie Schicksal oder Vorbestimmung umrissen wird – unter anderem aus dieser Dichotomie speist sich die innere Spannung von Stamms neuem Roman.

Stamm, ohnehin ein Meister der großen Bedeutungserzeugung in wenigen Worten, hat seine Kunst in den vergangenen Jahren noch verfeinert. Schon im voran gegangenen Roman „Weit über das Land“ waren die Übergange zwischen Indikativ und Konjunktiv, zwischen dem, was ist und dem, was sein könnte, so elegant fließend, manchmal innerhalb eines Satzes, dass die zwischen den Möglichkeitsebenen hin- und her switchenden Figuren auf dem Spielfeld der eigenen Identität verloren zu gehen drohten.

Wunschbild eines verfehlten Lebens

Wer sind diese Menschen, wer könnten sie sein, wer waren sie und was hätten sie werden können? Und vor allem: Wer bestimmt darüber? „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ schlägt einen Bogen zu Peter Stamms erstem, 1998 erschienenen Roman „Agnes“, der mittlerweile Schullektüre geworden ist. Auch in „Agnes“ geht es um die Macht des Schriftstellers über die Figur, die er erschaffen hat.

Nun dreht Stamm die Schraube der existentiellen Frage nach den Machtverhältnissen und dem Verfügungsrecht über das eigene Leben noch weiter zu. Eine kunstvoll verschachtelte Konstruktion liegt diesem Roman zugrunde, und trotzdem lässt er sich einfach, manchmal gar eine Spur zu glatt lesen. Da ist also der Schriftsteller Christoph, der sich, das ist der Rahmen, der Stamms Roman zusammenhält, an einen Spaziergang erinnert, den er mit der jungen Schauspielerin Lena durch Stockholm gemacht hat. Christoph, der nur ein einziges Buch veröffentlicht hat, ist Jahre zuvor in einem Hotel seinem Doppelgänger begegnet; dem jungen Chris, der Lenas Freund ist. Und Lena erinnert Christoph an seine eigene große Liebe Magdalena, von der er sich getrennt hat, weil er eine Entscheidung für die Kunst und gegen eine Beziehung treffen wollte.

Christophs Buch ist eben jene Beziehungsgeschichte mit Magdalena. Und auch Lenas Freund Chris schreibt an einem Buch. Man könnte also meinen, dass der gealterte Christoph das Leben von Lena und Chris vorgezeichnet hat. Dass er weiß, wie es damit weitergeht. Der Gedanke hat etwas Unheimliches, wie überhaupt das Doppelgänger-Motiv als eine Reminiszenz an die romantischen Motive der spukhaften Projektion eines anderen, dunkleren Ich fungiert. Der Doppelgänger ist das Wunschbild eines verfehlten, aus dem Lot geratenen Lebens. Und beide Lebenswege werden von einer übergeordneten Instanz beschrieben und überblickt, ohne dass daraus so etwas wie eine Erlösung folgen würde. Das Ohnmachtsgefühl im Hinblick auf die Nichtsteuerbarkeit des Daseins bleibt.

Stamm weigert sich, Geschichten zu runden

In einer der Stockholm-Szenen in einem Café stellt Stamm in einem Dialog zwischen Lena und Christoph seine Poetologie offen aus: Sie wolle, sagt Lena, bevor sie Christoph weiter zuhöre, von ihm zuerst das Ende der Geschichte hören. „Das Ende der Geschichte“, antwortet Christoph, „kann ich Ihnen nicht erzählen. Ein Ende haben Geschichten nur in Büchern.“

Damit schließt sich einerseits der Kreis des Verweissystems innerhalb des Textes; zugleich öffnet Peter Stamm damit sein Schreiben gegenüber der sogenannten Realität. Er weigert sich, seine Geschichten zu runden. Das imprägniert ihn gegen jeden Kitschvorwurf. Und es macht auch diesen Roman düsterer, dringlicher.

Peter Stamm: Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2018. 156 Seiten, 20 €.

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