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Chronist der Gegenwart: Leif Randt wurde 1983 in Frankfurt am Main geboren.

© Zuzanna Kaluzna/KiWi

Neuer Roman von Leif Randt: Schlummernde Dystopie in der Wohlstandswelt

Selbstbezogenheit und emotionale Kälte: In Leif Randts brilliantem Deutschland-Roman „Allegro Pastell“ ist es nicht ganz so heil wie es scheint.

Wenn einer in sein dreißigstes Jahr geht, werde man nicht aufhören, ihn jung zu nennen, versicherte Ingeborg Bachmann 1961 in ihrer berühmten Erzählung „Das dreißigste Jahr“. Dem Geburtstagskind selbst sei aber so, als ob es ihm nicht mehr zustünde, sich als jung auszugeben. Ein halbes Jahrhundert später treiben diese Selbstzweifel in Leif Randts neuem Roman „Allegro Pastell“ die anmutigsten Blüten.

Wie in seinem vorangegangenen Science-Fiction-Epos „Planet Magnon“ setzt Randt, 1983 in Frankfurt am Main geboren, seinen Figuren strenge Altersdefinitionen, worüber er sie eingehend räsonieren lässt. Bis 21 darf man sich demnach als Junior/in begreifen, das Early Age reicht von 21 bis 36, gefolgt vom Mid Age bis immerhin 63 Jahren.

Dennoch zögert der Mittdreißiger Jerome Daimler, der wieder im Bungalow seines Vaters im hessischen Maintal wohnt, die Einladung zum 58. Geburtstag von dessen Freundin Beate anzunehmen. Der freiberufliche Webdesigner geht davon aus, auf der Party niemandem zu begegnen, der ihm etwas Interessantes zu erzählen hätte – und sagt ab.

Genussvoller Sex zum 30. Geburtstag

Jeromes Freundin Tanja Arnheim, eine Berliner Schriftstellerin, feiert am 30. April 2018 mit gemischten Gefühlen ihren 30. Geburtstag. „Es wird darum gehen, das neue Alter zu ästhetisieren“, glaubt sie. „Und mit dreißig geht es vielleicht sogar darum, eine ganze Dekade zu ästhetisieren.“ Als es dann soweit ist, genießt sie in ihrer Neuköllner Wohnung im Schein eines Leuchtglobus mit Jerome besonders genussvollen Sex durch die „Entscheidung zu absoluter Langsamkeit und demonstrativer Nähe“.

Anschließend schlafen sie gut zehn Stunden lang. Ein Jahr später hat sich das scheinbar so harmonische Kreativ-Paar getrennt. Immerhin kann sich Tanja an ihrem 31. Geburtstag aber über einen Badminton-Schläger „mit mittelharter Bespannung und neongelbem Griffband“ freuen. Sie trainiert am liebsten in der Allegro-Grundschule in Tiergarten. Der Name dieser Schule hat den Autor nach eigenen Angaben zu seinem Romantitel inspiriert, der wie eine Synthese aus Musik und Bildender Kunst wirkt und ebenso ein Mode-Label zieren könnte.

Das Pastell-Element entsteht durch den betörenden Sound von Leif Randts Sprache, der bereits 2011 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb aufhorchen ließ. Er gewann ihn hochverdient mit einem Auszug aus „Schimmernder Dunst über Coby County“. In dieser Dystopie geht es um einen Literaturagenten, dem in einer maritimen Wellness-Oase Unerklärliches zustößt.

Winzige Risse in der Wohlstandswelt

„Allegro Pastell“ erzählt in drei Teilen beziehungsweise Phasen vom hitzerekordverdächtigen Frühling 2018 bis zum Sommer 2019, also aus einer ganz nahen Vergangenheit. Im Gegensatz zu seinen bisherigen Büchern, beginnend mit dem in London spielenden Debüt „Leuchtspielhaus“ (2009), bleibt der Autor diesmal im Lande und beschreibt die beiden Städte, die er am besten kennt: Frankfurt mit seinem großen Einzugsgebiet und Berlin.

„Berlin kann jeder, Frankfurt ist Kunst“, heißt es programmatisch. Jerome ist stolz darauf, trotz seines kreativen Berufs nie nach Berlin gezogen zu sein, dennoch denkt er viel über die hauptstädtischen Anziehungskräfte und die Schwächung des kulturellen Föderalismus nach.

So winzig die Risse in der geschilderten heilen Wohlstandswelt auch erscheinen mögen: Sie sind doch vorhanden und zwar, um das Licht hindurchzulassen, wie es in einem Songtext von Leonard Cohen sinngemäß heißt. Im Fall von Leif Randt fällt dieses Licht der Erkenntnis auf ein sanftes, fröhliches Deutschland in Pastell. Es wird von jungen Menschen bevölkert, die gerne Bahn fahren, um zufrieden im Bordbistro zu sitzen, und die auf vorbildliche Weise den Trend zur Achtsamkeit internalisiert haben.

Schwule Virtual-Reality-Fans

Allerdings denken sie dabei stets vor allem an sich selbst: „Am Wochenende meldete sich Jerome mit einem Selbstportrait, das er beim Joggen aufgenommen hatte. Er war darauf mit einem weißen Stirnband zu sehen, im Hintergrund Windräder und ein wolkenloser Himmel. Unter das Bild textete er: ‚300 % Joy'. Tanja gefiel die Nachricht.“

Wenn es überhaupt zu Differenzen kommt, dann sind Jerome und Tanja höchstens „diffus sauer“ aufeinander. Vermutlich rührt diese unheimliche Dauerharmonie daher, dass beide keine „Elternaggressionen“ kompensieren mussten, da diese „eben sehr in Ordnung waren“.

Seit dem Erscheinen ihres Debütromans „PanoptikumNeu“, in dem es um schwule Virtual-Reality-Fans geht, ist Tanja eine gefragte Expertin für eben diese Phänomene. Bedingt durch den Erfolg ihres Erstlings fällt es ihr schwer, eine tragbare Idee für das zweite Buch zu entwickeln. Vage soll es darin um die Freundschaft zweier Frauen gehen.

Unentwegt sich selbst bespiegelndes Volk

Hinter der Fassade des Liebes- und Künstlerromans entpuppt sich „Allegro Pastell“ als analytischer Deutschlandroman, in dem es sehr viel um dieses um sich kreisende, unentwegt sich selbst bespiegelnde Volk geht. So schätzt Tanja an ihren Fernreisen am meisten, dass sie mit einem gewissen Fremdheitsgefühl zurückkommt – das Ausland als Erfahrungsraum fällt einfach weg.

Ähnlich desillusionierend und kalt erscheinen die emotionalen Beziehungen. Es geht weniger darum, einen anderen Menschen zu lieben als vielmehr um die Frage, wie man sich als Liebende oder Liebender fühlt, befeuert durch die mannigfachen Kommunikationsplattformen, auf denen jede Gemütsregung sofort gnadenlos reflektiert wird.

Bei Tanja kommt erschwerend hinzu, dass sie als Tochter einer Psychologin ihre Beziehungsprobleme mit der eigenen Mutter diskutiert: „Seit Tanja ü-zwanzig war, hatten sie versucht, wie Freundinnen miteinander umzugehen.“ Dass solche Gespräche im Multimediaraum ihres Bremer Elternhauses geführt werden und Tanja dabei auf einem kupferroten Teppich sitzt, „der jedes Jahr im Oktober professionell gereinigt wurde“, zeigt die überaus feine und elegante Ironie, die Randts Texte unverwechselbar macht.

Eigene Wirklichkeit verdächtig bonbonfarben

Wie Champignons ploppen in dieser sprachlichen Wohlfühl-Landschaft unzählige „Okays“ auf. Aber ist tatsächlich alles o.k.? Ausgerechnet Tanjas Schwester Sarah leidet unter einer so schweren Depression, dass sie sich freiwillig in eine Klinik einweisen lässt. Es ist bemerkenswert, dass Sarah nie zu Wort kommt, sondern immer nur über sie gesprochen und getextet wird.

Nach ihrer Trennung begegnen sich Tanja und Jerome an einem brütend heißen Herbsttag wieder, bei einer Hochzeit in Thüringen. Beide habe da längst andere Partner gewählt, am Horizont deutet sich gar eine Familiengründung an, doch sie kommen nicht voneinander los. Eine ähnliche Leser-Text-Bindung entfaltet auch dieser außergewöhnliche Gegenwartsroman, in dem – wie sollte es bei Randt anders sein – erneut eine Dystopie schlummert. Denn „Allegro Pastell“ sickert so unmerklich, aber stetig ins Bewusstsein ein, bis die eigene Wirklichkeit verdächtig bonbonfarben erscheint.
[Leif Randt: „Allegro Pastell“. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020. 260 Seiten, 22 €.]

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