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Kamel Daoud schreibt auf Französisch und lebt in Oran.

© Sophie Bassouls/Imago/Leemage

Neuer Roman von Kamel Daoud: Gegen den Strom des Koran

Der algerische Schriftsteller Kamel Daoud kämpft mit seinem Roman „Zabor“ um ein befreites Leben – und überlistet schreibend den Tod.

Die meisten europäischen Sprachen schreiben sich von links nach rechts, vielleicht, damit die Mehrheit der Rechtshänder die Zeichen nicht verwischt. Die arabische Schrift verläuft von rechts nach links, und man kann dies auch als Metapher einer gegen den Strich gelesenen Erzählung interpretieren. „Diese Geschichte müsste neu geschrieben werden“, heißt es in Kamel Daouds Debütroman „Der Fall Meursault“, mit dem der 1970 in Mostaganem an der algerischen Küste geborene Autor 2013 einen Sensationserfolg landete. Es handelte sich um eine Wiederaufnahme des „Fremden“, jenes vor gut einem halben Jahrhundert von Albert Camus verhandelten Falls, der das Rätsel des Absurden aufzuhellen versuchte. Diese Geschichte, so Daoud, „müsste in der gleichen Sprache, aber diesmal, wie das Arabische von rechts nach links“ erzählt werden.

In seinem zweiten, noch ambitionierteren Roman „Zabor“ geht es um die Sprache und um die Geheimnisse der von rechts nach links und umgekehrt verlaufenden Schriften, um ihre Benennungs- und Offenbarungskunst. „Warum musste man in dieser Richtung schreiben und nicht in der anderen?“, fragt sich Ismael, „warum nicht schreiben, wie das Rind pflügt oder wie der Vogel von unten nach oben?“ Ismael lebt in Aboukir, einem Dorf am Rande der Sahara. Zart gebaut, mit schwachen Lungen und einer Ziegenstimme ist der 28-Jährige ein Außenseiter, Jungfrau noch, nicht beschnitten und zu Ohnmachtsanfällen neigend.

Sein Vater Hadj Brahim, ein wohlhabender Fleischer, „scharfsinnig wie das Misstrauen und falsch wie ein Film“, hatte seine Mutter und ihn zunächst in der Wüste ausgesetzt. Die Stiefmutter treibt den Vierjährigen nach dem Tod der Mutter aus dem Haus, weil Ismael angeblich seinen Halbbruder in den Brunnen gestoßen hat. Ismael wächst bei seiner ledigen Tante Hadjer auf, die ihn liebt wie einen Sohn, und seinem siechen Großvater Hadj Habib, beide ebenfalls aus der Familie ausgestoßen.

Ein arabischer Robinson Crusoe auf einer Insel ohne Sprache

Doch Ismael hat eine besondere Gabe und eine Mission: Indem er erzählt und schreibt, rettet er die Todgeweihten im Dorf. Immer wenn die Weisheit des Arztes oder des Imams versagt, holt man ihn. Durch die schreibende Erinnerung bringt er sie zurück ins Leben. „Schreiben ist die einzig wirksame List gegen den Tod“, heißt es gleich zu Anfang.

Der algerische Journalist, der sich vor einigen Jahren von seinem Brotberuf zurückgezogen hat, weil die Anfeindungen in seinem Land zu gefährlich geworden waren, bringt mit dieser am Scheherazade-Stoff orientierten Geschichte eine weitere orientalische Parabel über die Macht des Schreibens in Umlauf, mit der er das sich selbst auferlegte Schweigen unterläuft. Er habe keine Macht mehr gehabt über seine Texte, erklärte er in einem Interview.

Diese Macht wird auch Ismael, der trotzig den abfälligen Namen Zabor übernommen hat, was im Arabischen auch das Buch David bezeichnet, aus den Händen geschlagen, als er eines Tages von seinen Halbbrüdern ins Haus seines sterbenden Vaters gerufen wird. Nach all den Demütigungen und dem Schmerz scheint der Tag der Rache nah. Zabor bleiben nur drei Tage Zeit, den Vater zu retten. Doch er spürt, dass ihn seine Gabe angesichts dieser Herausforderung im Stich lässt. In diesen drei Tagen am Bett seines Vaters oder verbarrikadiert in seinem Zimmer rekapituliert er die Geschichte seiner eigenen Initiationen, „ein arabischer Robinson Crusoe auf einer Insel ohne Sprache, Herr der Papageien und der Worte“.

Erzählen als Erlösungsversprechen

Der Ich-Erzähler blickt zurück auf die traumatischen, biblisch verbrämten Erlebnisse seiner Kindheit, die er durch den Erwerb des Hocharabischen in der Schule zunächst kompensiert, indem er sich seinem Lesehunger ausliefert. Doch es gibt nur wenige, viel zu wenige Bücher im Dorf, und so beginnt Zabor in Heften aufzuschreiben, was er anhand der Bücher, derer er habhaft wird, sieht, erlebt oder ausspinnt. Die Sprache ist für ihn ein Erlösungsversprechen: Denn „schreiben oder erzählen ist das einzige Mittel, um in der Zeit zurückzugehen, ihr zu begegnen, sie wiederherzustellen oder zu kontrollieren.“

Auf der Koranschule, wo er Psalmen repetieren lernt, wird ihm klar, dass ihn das heilige Buch nur im Kreis herum führt und die Rätsel des Lebens – unter anderem die des Körpers und des Weiblichen – nicht löst. Erst als er den ersten französischen Roman entdeckt, eine körperbetonte Liebesgeschichte, die er sich holprig erschließt, findet er seine Bestimmung: „Man muss einen großen Roman gegen den Strom des heiligen Buchs schreiben“, einen „über den Rand seiner Hefte“ hinaus. Die von links nach rechts sich bewegenden Zeichen, Strandgut, das die Kolonialherren in Algerien zurückgelassen haben, stillen ein lang empfundenes Begehren. Die sprachliche Landnahme erlaubt Zabor, das Gesetz des Vaters zu brechen und sein eigenes Reich – festgehalten in seinem ebenfalls „Zabor“ genannten Roman – zu erweitern.

Implizite Kritik am heiligen Buch

„Zabor“ ist die Selbstaufklärung eines sich als Opfer imaginierenden Kindes und Jugendlichen, der durch das Erzählen seinen Körper (wieder)findet. Über die opulente, gelegentlich redundante Geschichte hinaus, entwickelt Daoud aber auch eine Erzähltheorie, in der er über Schreibhaltungen, Bildsprache und seinen Zugriff auf Realität Auskunft gibt: „Ich glaube nicht an die Theorie von der verborgenen Bedeutung“, lässt er Zabor sagen. „Ich glaube an die Bestandsaufnahme und den Vorrang des Gedächtnisses vor dem Tod.“

Implizit verbindet sich damit auch eine Kritik am heiligen Buch, das noch immer, wie Daoud sagt, der Übersetzung in die gesprochenen arabischen Sprachen harrt. „Ich träume von einem Moment – und er wird kommen –, wo wir in unserer Sprache schreiben und lesen können – auch den Koran.“ An der Antwort auf die Frage, ob dieser den 5436 Heften, die Zabor geschrieben, vergraben und schließlich dem Wind ausgeliefert hat, überlegen ist, lässt dieser Roman keinen Zweifel. Sie wird Daoud wieder einmal den Ruf eines Häretikers eintragen.
Kamel Daoud: Zabor. Roman. Aus dem Französischen von Claus Josten. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2019. 378 Seiten, 23 €.

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