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Repräsentant eines kosmopolitschen Schreibens: Hari Kunzru, britischer Journalist und Romancier. 

© promo

Neuer Roman von Hari Kunzru: Buße für das Elend der irdischen Existenz

Der ewige Wunsch nach Erlösung: Hari Kunzrus „Götter ohne Menschen“ ist ein Roman von brillanter erzählerischer Fülle.

Schmidt tut Buße. Er hat seine Frau misshandelt, hat, ohne es zu wissen, Atombomben auf Hiroshima abgeworfen. Nun, in der kalifornischen Mojave-Wüste, hat er ein „Kraftfeld“ gefunden, in dessen Zentrum eine Felsformation steht, die ihm als natürliche Antenne erscheint: „Also sandte er Einladungen aus. Zwei Stunden pro Abend – zwei Stunden, um für Lizzie Buße zu tun, für die Bombenangriffe, für das ganze Elend der irdischen Existenz.“

Dieser Schauplatz ist gewissermaßen das Kraftfeld dieses Romans, um das herum sich die Erzählstränge wie konzentrische Kreise anlagern. 

Sie umgreifen unterschiedliche Zeiträume und reichen von der Missionierung indigener Ureinwohner im 18. Jahrhundert über die intergalaktischen Aktivitäten von Ufo- und Hippiekommunen in den 50er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts bis in das Jahr 2009, in dem der Finanzmathematiker Jaz den Verdacht schöpft, dass das von ihm mitgestaltete Programm den Börsencrash ausgelöst hat.

Kosmopolitische Literatur

Hari Kunzru, der in London als Sohn eines Inders und einer Engländerin geborene, nun in New York lebende Autor gilt als Repräsentant eines kosmopolitischen Schreibens, in der Identitäten, vor allem aber Raum-Zeit-Grenzen aufgelöst werden; sein Kollege Douglas Coupland schuf hierfür den Term „Translit“. 

So finden in „Götter ohne Menschen“ die Geschichten zwar am gleichen Ort, aber zeitversetzt statt. Verbunden sind sie über wiederkehrende Motive, Muster und Bilder sowie dem Wunsch der Figuren nach Transzendenz und Erlösung.

Erscheinen dem Mormonen Nephi Parr im 19. Jahrhundert noch Engel und Götter, so richtet Schmidt 1947 seinen „Willkommen“-Funkspruch ebenso an rettende Außerirdische wie später die Ashtar Galactic Command-Sekte, aus der sich in den 1970ern eine Hippie-Kommune herausmendelt. 

Jaz, der sich ob seines Glücks, den Trotzanfällen seines autistischen Sohns auf der Arbeit zu entrinnen, „an jedem Tag schuldig gefühlt“ hatte, will mit einem Familienausflug in die Wüste seine Ehe retten.

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Die Protagonisten der einzelnen Erzählstränge tauchen in den anderen Geschichten wieder auf, mal als ferne Randfigur, mal im Zentrum des Geschehens. 

So trifft Jaz im Motel auf den britischen Rockstar Nicky, der, entnervt von den Versuchen mit seiner Band ein Americana-Album einzuspielen, hier eingecheckt hat und sich dauerberauscht. Ausgerechnet diesem ungeduschten Elend wendet sich der unzugängliche Ray zu. Als Ray dann verschwindet, gerät Nicky in Verdacht, das Kind entführt zu haben.

Ray ist nicht das einzige Kind, das verschwindet und wiederkehrt. Für ihn, wie für alle Figuren des Romans gilt die Frage, ob sie noch dieselben Wesen sind, wenn sie, sei's am gleichen Ort oder zu anderer Zeit, wiederauftauchen. 

Sie sind nicht nur älter, sondern auch irgendwie anders, verwandelt, so wie der wiederaufgefundene Ray: Er beginnt zu sprechen, sein zornmütiges Wesen hellt sich auf. Diese schöne Wendung treibt Jaz in den Wahnsinn, da er glaubt, sein Sohn sei ausgetauscht worden. Was Ray tatsächlich passiert ist, bleibt unklar.

Christliche Missionierung als „Ursünde"

Kunzrus fragmentierter Roman entfaltet einen Sog, da alle Geschichten zweifach gelesen werden können. Einerseits als psychologische, kulturhistorische oder auch politische Fallstudien, in denen sich jede Menge Irrsinn zu erkennen gibt. 

Sei es der Blödsinn der Ufo-Sekten, deren wattiertes Gewäsch Kunzru etwas übertreibt, oder der Irrsinn einer militärischen Simulation in der Wüste, in der die geflüchtete Irakerin Laila bei Rollenspielen der amerikanischen Armee eine Irakerin spielt, während sich die amerikanischen Soldaten „Gewänder, Kandoras und Bandanas umgewickelt hatten und aussahen wie auf der Toga-Party einer Studentenverbindung“.

Zugleich setzt „Götter ohne Menschen“ auch den Wunsch nach Sinnstiftung und nach Befreiung von den Zufälligkeiten, Nichtigkeiten und Sünden des Lebens in Szene. Durch seine Komposition spricht er aber insbesondere dem Christentum die Erlösungskompetenz ab, setzt er doch die Auslöschung der indianischen Kulturen durch christliche Missionare als „Ursünde" ins Bild. 

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Auch in seinem letzten Roman „White Tears“ – der Vorgänger von „Götter ohne Menschen“ erschien 2011 – hatte Kunzru die Geschichte des Rassismus mit Mitteln des Gespenstischen erzählt: die Verbrechen der Vergangenheit kehren wieder.

In „Götter ohne Menschen“ aktualisiert der Anthropologe Deighton als Wiedergänger die historische Schuld, als er 1920 aus Eifersucht einen Indianer wissentlich fälschlich als Ehebrecher denunziert. Als er sieht, dass die von ihm ausgelöste Menschenjagd zum Mord führen wird, betet er, dass dies nicht geschehen möge. Vergebens. 

Danach verkriecht sich Deighton in eine Felsenhöhle, bis er 1942 – auch er hatte zu funken begonnen – als deutscher Spion diffamiert wird. Während der Untersuchung will der Eremit in einem Akt der Wiedergutmachung einem jungen Polizisten mit indianischen Wurzeln seine Studien der indigenen Kultur übergeben. 

Vergebens. Als er „ausgeräuchert“ wird, fliegen die Notizen davon, von Deighton „schien bis auf ein paar Knochen kaum etwas übriggeblieben zu sein“.

Leser müssen Sinn selbst schaffen

Deighton kannte immerhin die Bedeutung, die der indianische Mythos der Felsenregion gab: Hier flicht die blinde Yucca-Frau ihren Korb und bindet dabei das Diesseits mit dem Land der Toten zusammen. So kann man von der Seite des Lebens auf die der Toten gelangen. 

Neben diesen mythologischen Spuren gibt Kunzru mittels Titel und Motto noch weitere Einstiegshilfen in den Roman. „Götter ohne Menschen“ variiert ein Zitat von Honoré de Balzac: Die Wüste sei Gott ohne die Menschen. In ihr gebe es alles und es gebe nichts. Die Wüste ist also ein paradoxer Ort: ein leerer Raum der Fülle. 

Genau damit ist die Leserschaft dieses brillanten, spannenden, außergewöhnlichen Roman-Kraftfeldes konfrontiert: so viel erzählerische Fülle – und keine narrative Sinnstiftung. Diese muss sich die geneigte Leserschaft selbst schaffen. Mit oder ohne Antenne.
[Hari Kunzru: Götter ohne Menschen. Roman. Aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schreiner, Liebeskind, München 2020, 416 Seiten, 24 €.]

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