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Die irische Schriftstellerin Anne Enright.

© Hugh Chaloner

Neuer Roman von Anne Enright: Erdrückende Präsenz einer berühmten Mutter

Wer braucht hier wen? Anne Enright beschreibt in ihrem Roman „Die Schauspielerin“ ein fragiles Mutter-Tochter-Verhältnis.

Katherine O’Dell raucht dreißig Zigaretten am Tag und trinkt Alkohol ab sechs Uhr abends, mit offenem Ende. Wenn die Schauspielerin zehn oder zwölf Leute zu sich nach Hause einlädt, Theaterleute, Musiker, Schriftsteller, kommen schon mal weit über hundert vorbei, die sich ebenso gut amüsieren wie blamieren. Einmal ist ein alter Schulfreund unter den Gästen, der Katherine gesteht, dass er sie nie leiden konnte. Die Gastgeberin lehnt an der Wand, in die Enge getrieben. Alkohol, Anmache, schöne und weniger schöne Geständnisse: Die Partys in dem Dubliner Haus der siebziger Jahre sind exzessiv. Norah, Katherines Tochter, steht im Schatten ihrer berühmten Mutter, die 1986 mit 58 stirbt. Aber oft genug ist es Norah, die ihre Mutter retten muss, wenn die nicht mehr ganz zurechnungs- oder handlungsfähig ist.

Anne Enright beschäftigt sich in ihrem neuen Roman „Die Schauspielerin“ mit einem engen und zugleich fragilen Mutter-Tochter-Verhältnis. Wer braucht hier wen, wer hat welche Rolle in diesem vertrackten Pas de deux? Wie kommt eine Tochter mit einer Mutter zurecht, die in allem, was sie tut, eine erdrückende Präsenz hat, im Erfolg wie im Leiden? Und welche Bedeutung hat der abwesende Vater von Norah, über dessen Existenz die Tochter zeitlebens rätselt? Die Mutter hüllt sich in Schweigen.

Norah, die Schriftstellerin wird und deren Werke mit dem Zusatz „von der Tochter von Katherine O’Dell“ beworben werden, erzählt das Leben ihrer durchgeknallten Mutter. Sie will Klarheit gewinnen über diese Frau, die selbst dann ihre Starallüren pflegt, wenn es nur darum geht, einen banalen Marmeladentoast zu essen. Vielleicht besteht ihre Tragik gerade darin, dass nichts in ihrem Leben banal sein kann. Norah muss mit einem ganzen Sack ambivalenter Gefühle leben: Zärtlichkeit, Bewunderung, Wut, Desillusion. „... in Wahrheit war Katherine O’Dell mit fünfundvierzig Jahren fertig. Beruflich. Sexuell.“ Sagt die junge Tochter, später selbst verheiratet und Mutter, über die eigene Mutter.

Eine Zeit lang, in ihren Zwanzigern, ist die schöne Katherine O’Dell eine gefeierte Schauspielerin. Sie hat es von Irland nach New York und sogar bis nach Hollywood geschafft. Das Studio in L.A., bei dem sie unter Vertrag ist, managt nicht nur ihre Karriere, sondern auch ihr Privatleben. Inklusive einer Märchenhochzeit mit einem Schauspieler, der sowohl dem Alkohol als auch den Männern zugetan ist. Die Ehe, kein Wunder, hält nicht lange. Anfang der fünfziger Jahre ist ihr Stern gesunken und sie kehrt, mit einem Baby im Arm, nach Irland zurück. Sie spielt weiter, ist aber psychisch zunehmend labil. Und dann der traurige Höhepunkt ihres Wahns: Katherine schießt einem selbstverliebten Filmproduzenten in den Fuß, der sie für eine wichtige Rolle abgelehnt hat, und kommt in die Psychiatrie. Als der Vorfall passiert, ist Norah 28 Jahre alt.

Anne Enright, die 1962 in Dublin geboren wurde, bekam 2007 für ihren Bestseller „Das Familientreffen“ den Booker-Preis. Der Selbstmord eines Mannes steht im Zentrum dieses Buches. In „Die Schauspielerin“ nun ist es, wenn man so will, ein Selbstmord auf Raten, denn Katherine O’Dell ist eine Selbstzerstörerin. Bei aller Dramatik trägt diese Geschichte aber auch komische Züge. Anne Enrights Roman ist nämlich eine Gesellschaftsstudie mit unzähligen Wichtigtuern aus der Film- und Theaterbranche, mit Unidozenten und Journalisten. Genüsslich macht sich die irische Autorin über die schlimmste Journalisten-Poesie lustig, „ganze Absätze über Moore und Felder“ werden da zum Beispiel über die haselnussbraunen bis grünen Augen der attraktiven Katherine geschrieben.

Nicht zuletzt aber ist „Die Schauspielerin“, im Übrigen hervorragend übersetzt von Eva Bonné, auch ein Roman über männliche Dominanz und Machtspiele. Zu Beginn des Studiums macht einer ihrer Dozenten Norah ein unsittliches Angebot: ihre Jungfräulichkeit im Tausch gegen erstklassige Noten. So greift Enright indirekt die MeToo-Debatte auf, die es zu der Zeit, in der der Roman spielt, noch nicht gibt. Auch der Schuss, den Katherine auf den selbstherrlichen Produzenten abfeuert, muss in diesem Kontext gesehen werden. Enright hat sich hier von der Biografie der radikalen Feministin Valerie Solanas inspirieren lassen – die Frau, die 1968 auf Andy Warhol geschossen hat.

In letzter Zeit sind eine Reihe bemerkenswerter Bücher über Mutter-Tochter-Beziehungen erschienen, wie die autofiktionalen Texte von Annie Ernaux („Eine Frau“) oder Vivian Gornick („Ich und meine Mutter“). Während sich Ernaux und Gornick an unglamourös-durchschnittlichen Müttern abarbeiten, ihnen zugleich Denkmäler errichten, muss hier die Tochter mit einem Superstar klarkommen. Bisweilen übertreibt es Enright mit ihren Anekdoten aus dem Schauspieler-Milieu, auch ihr Figuren-Aufgebot ist beträchtlich. Trotzdem ist „Die Schauspielerin“ eine hellsichtig-wütende Liebeserklärung an die Mutter geworden. Norah muss halt ihr Leben lang damit zurechtkommen, dass sie mit Katherine O’Dell verglichen wird. Auch ihre Augen, heißt es, habe sie von der Mutter. Allerdings interessiert sich im Fall von Norahs Augen kein Journalist für die subtilen Farbnuancen. Franziska Wolffheim





Anne Enright: 

Die Schauspielerin
Roman. Aus dem Englischen von

Eva Bonné.

Penguin Verlag, München 2020.

304 Seiten, 22 €.

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