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Jean-Philippe Toussaint ist ein belgischer Schriftsteller und Regisseur. Zu seinen Werken zählt auch der Roman „Der USB-Stick“.

© imago

Neuer Roman „Die Gefühle“: Jean-Philippe Toussaint führt durch ein Labyrinth der Erinnerungen

Schönheit und Erkenntnis liegen in Jean-Philippe Toussaints Roman „Die Gefühle“. Der Autor erhebt undurchdringliche Bürokratie zum Spiegelbild eines Seelenlebens.

Im Zug, auf der Rückfahrt von einer Sitzung, sitzt Jean Detrez erschöpft und gedankenverloren in seinem Sitz zurückgelehnt und scrollt durch die Fotografien, die sich auf seinem Mobiltelefon befinden. 

Als er auf das Foto einer jungen, halbnackten Frau stößt, aufgenommen ganz offensichtlich in einem Hotelzimmer, gerät Detrez in einen Zustand milder Verwirrung: Er weiß, wo das Foto entstanden ist und auch wann; er weiß, wer die Frau ist, nur: „Ich erinnerte mich nicht mehr an die genauen Umstände.“

In Gedanken beginnt Jean Detrez nun, jene Sommertage zu rekonstruieren, in denen er die Frau auf dem Foto kennengelernt hat – und mit dieser soeben am Rande der Plausibilität wandelnden Eröffnung, mit einer Hauptfigur, die sich in einem Zustand zwischen Müdigkeit und Reflexionsbereitschaft befindet, setzt der belgische Schriftsteller Jean-Philippe Toussaint uns gleich in der Eröffnungsszene seines neuen Romans mit dem Titel „Die Gefühle“ mitten hinein in sein unverwechselbares erzählerisches Universum.

Die Toussaint-Welt ist eine Welt, die vermeintlich scharf realistisch gezeichnet ist, deren unheimliches und poetisches Potential aber haarscharf neben der Realität liegt; in den Ereignissen, Gedanken und Handlungen, die nicht auflösbar sind und in denen sich vor allem die Figuren selbst auch rätselhaft bleiben dürfen. 

So postmodern artifiziell und elegant hergestellt Toussaints Szenarien auch stets erscheinen mögen, vor allem in seinen frühen Romanen, so wenig ironisch dürfte der Titel seines neuen Romans gemeint sein: „Die Gefühle“ ist tatsächlich ein hochemotionales Buch, nur ist Jean-Phillipe Toussaint eben einer jener Schriftsteller, die Gefühl nicht mit Sentiment verwechseln.

Sprache soll ein zerfallendes Leben zusammenhalten

Es ist der zweite Roman, der Jean Detrez als Hauptfigur hat. Der Vorgängerroman, der den Titel „Der USB-Stick“ trägt, war an der Leseoberfläche eine Agentengeschichte. Detrez arbeitet für die Europäische Union und trägt die Berufsbezeichnung „Zukunftsforscher“.

Jean-Philippe Toussaints neuer Roman "Die Gefühle" ist Teil einer Reihe.
Jean-Philippe Toussaints neuer Roman "Die Gefühle" ist Teil einer Reihe.

© Frankfurter Verlagsanstalt

Das kann man als eine einigermaßen ironische Idee bezeichnen angesichts des Umstandes, dass Detrez selbst weder Herr seiner eigenen Vergangenheit noch der Gegenwart ist. In „Der USB-Stick“ gerät Detrez über die Vermittlung zweier bulgarischer Mittelsmänner in eine undurchsichtige Transaktion, die ihn nach China führt.

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Es geht um die so genannte Blockchain-Technologie, um Betrug und Datendiebstahl, vor allem aber geht es, wie auch in „Die Gefühle“, immer wieder darum, dass ein Erzähler versucht, in einer kontrollierten Sprache sein aus den Fugen geratendes Leben zusammenzuhalten.

Undurchdringliche Bürokratie wird zum Spiegel der Seele

Dass das ein nahezu aussichtsloser Versuch ist, dokumentiert wiederum die Struktur des Romans: Im Grunde ist „Die Gefühle“ eine Aneinanderreihung von Einzelszenen, von Erinnerungsbildern ausgelöst durch spontane Impulse.

Eine stringente Handlung im klassischen Sinne existiert nicht, und wenn behauptet wird, dies sei ein Roman über einen Menschen, der sich in den Wirren der EU-Bürokratie verliere, ist das nicht falsch, aber unpräzise: Die Komplexität von Entscheidungswegen und bürokratischen Vorgängen dient Toussaint als Spiegel des Seelenlebens seines Protagonisten; ein Seelenleben, das uns ausschließlich aus der Perspektive von Detrez selbst geschildert wird. 

Was das für ein Mann ist? Ein undurchsichtiger Typ. Was er alles nicht über sich erzählt, lässt sich nur erahnen, wie man auch in diesem Roman, der seinen Vorgänger in der Intensität und Brillanz seiner Darstellungen übertrifft, sich überhaupt niemals sicher sein kann, wo man sich befindet.

Entwicklungen bleiben unaufgelöst

Das erste lange Kapitel ist die durch die Betrachtung des Handy-Fotos ausgelöste Erinnerung an eine Tagung in einem noblen Landsitz mit Namen „Hartwell House“ im Jahr 2016, auf der es um die Folgen des zehn Tage zuvor durchgeführten Brexit-Referendums gehen soll. 

Am Rande ist davon auch die Rede, vor allem aber bahnt sich zwischen Detrez, der zwei gescheiterte Ehen hinter sich hat, und einer Kollegin an der Hotelbar eine Liaison an. Die endet abrupt, weil die Kollegin sich verabschiedet und geht – kurz darauf sitzt eine andere Frau an ihrer Stelle, und das Gespräch mit der einen geht genau dort weiter, wo das mit der anderen geendet hat. 

Erklärt wird das nicht, auch im Nachhinein nicht; was bleibt, ist die verschwommene Fotografie auf dem Telefon und eine Atmosphäre von pulsierender Unruhe, die unter dem Text liegt. „Die Gefühle“ ist kein handlungsloser Roman, im Gegenteil; er besteht aus drei langen Erzählungen, die auch als in sich abgeschlossene Einheiten gelesen werden können.

Ein Gebäude wird zu einem Protagonisten

Jean-Philippe Toussaint aber ist kein plotgetriebener Erzähler; ihm geht es um das augenblickhafte Aufblitzen von Schönheit und Erkenntnis, um Epiphanien des Alltags und auch um die Unheimlichkeit, die in profanen Verrichtungen und Beziehungen lauern kann. Das zweite Kapitel eröffnet mit dem Satz: „Mein Vater starb im Dezember desselben Jahres 2016.“

Der Vater war ebenfalls ein hochrangiger EU-Beamter, doch der eigentliche Protagonist des zweiten Langkapitels ist ein Gebäude, das Berlaymont-Gebäude in Brüssel, Sitz der Europäischen Kommission. 

Jeans Bruder Pierre, von Beruf Architekt, erhält den Auftrag die aufwendige Sanierung des Gebäudes durchzuführen, und die Erinnerung an einen gemeinsamen Baustellenbesuch des riesigen Komplexes gemeinsam mit dem Bruder und dem Vater gerät Jean Detrez umgehend wieder zu einer mysteriös gefärbten Beschreibung eines labyrinthischen, von unterirdischen Geheimgängen durchzogenen, in sich geschlossenen Universums, das ganz am Ende des Romans noch einmal eine wichtige Rolle spielen wird.

Es gebe, so sagt Jean Detrez es zu Beginn des dritten Kapitels angelehnt an Stefan Zweigs „Sternstunden der Menschheit“, entscheidende Augenblicke im Leben, die nie in Vergessenheit geraten. Ob Toussaint auf diese Augenblicke hin- oder kalkuliert genau an ihnen vorbeierzählt, bleibt stets in der Schwebe.

Jean-Philippe Toussaint wird, das hat er bereits angekündigt, seinen Romanzyklus um Jean Detrez fortschreiben. So wie er in „Die Gefühle“ auf Umwegen, in höchster Eleganz, aber ohne jedes Pathos (auch nicht dem Pathos der Lakonie!) von Tod, Verlust, Angst, Begehren und Liebe erzählt – so vermag das kein anderer Schriftsteller derzeit.

– Jean-Philippe Toussaint: Die Gefühle. Roman. Aus dem Französischen von Joachim Unseld. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2021. 242 Seiten, 22 Euro.

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