zum Hauptinhalt
Die 1943 in Dawlekanowo, Baschkirien, geborene russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja.

© Peter-Andreas Hassiepen/Hanser Verlag

Neuer Roman der Chronistin der Sowjetzeit: Das Missgeschick des Virologen

Nichts darin ist erfunden: Ljudmila Ulitzkajas Buch „Eine Seuche in der Stadt“ erzählt vom sowjetischen Geheimdienst.

Dieser Tage hat die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja den ihr im vergangenen Jahr zugesprochenen Siegfried-Lenz-Preis online entgegengenommen, machte doch weiteres Warten auf das Ende der Corona-Pandemie keinen Sinn mehr. Und wie, um diese missliche Situation noch zu akzentuieren, ist gerade ihr neuestes Buch in deutscher Übersetzung erschienen, mit dem unzweideutigen Titel „Eine Seuche in der Stadt“.

Oder doch zweideutig? Denn was Ulitzkaja da auf gerade einmal einhundert Seiten in dem korrekterweise nicht als „Roman“, sondern „Szenario“ gekennzeichneten Buch beschreibt, ist zum einen Ausbruch und Bekämpfung einer realen, bakteriellen Seuche, zum anderen aber das Wirken des sowjetischen Geheimdienstes NKWD, das sich – wir schreiben das Jahr 1939 – längst wie eine unentrinnbare Seuche über die Sowjetunion gelegt hat.

Ein Virologe ließ die Pest neu aufflackern

Diese Parallelisierung ist einfach, sie liegt nahe; und doch ist sie wahrhaftig, denn tatsächlich gab es 1939 ein kurzzeitiges Aufflackern der Pest im Sowjetreich, jawohl: der Pest; ausgelöst von einem Virologen, der – streng geheim, wie alles in der damaligen UdSSR – an einem Impfstoff arbeitet, sich aber bereits infiziert hat und unglücklicherweise mitten in der Arbeit nach Moskau zitiert wird, um den Funktionären des Gesundheitswesens Bericht zu erstatten.

Auf diese kaum glaubliche Geschichte ist Ulitzkaja durch mündlichen Bericht gestoßen, hat daraus 1978 den Entwurf eines Filmdrehbuchs gemacht, mit dem sie – erwartbar – abblitzte.

Nun, vier Jahrzehnte, etliche Romane und zahlreiche Auszeichnungen später, gräbt Ulitzkaja das Manuskript aus und veröffentlicht es, wohl unverändert, wie der stark dialogische Charakter dieser Erzählung nahelegt.

[Behalten Sie den Überblick: Jeden Morgen ab 6 Uhr berichten Chefredakteur Lorenz Maroldt und sein Team im Tagesspiegel-Newsletter Checkpoint über die aktuellsten Entwicklungen rund um das Coronavirus. Jetzt kostenlos anmelden: checkpoint.tagesspiegel.de.]

Der Seuchenforscher Rudolf Iwanowitsch Mayer erstattet in Moskau Bericht, erkrankt im Hotel und kommt in die Notaufnahme, wo der Arzt die Symptome zutreffend als Pest erkennt. Nun geht ein Wettlauf gegen die Zeit los, der sehr schnell zu Stalin führt – im Text nur „der Sehr Mächtige Mann“ –, der wiederum den Geheimdienst aktiviert: alle Kontaktpersonen in Quarantäne stecken, das Krankenhaus isolieren – und nur ja keine Panik aufkommen lassen.

Am Ende fordert der Bazillus lediglich drei Menschenleben, dazu einen durch Selbstmord, einen weiteren auf der Flucht über Bahngleise; beide hatte das nächtliche Klopfen an der Tür, vor dem in den dreißiger Jahren das ganze Land zitterte, zum Äußersten getrieben. „Wer weniger weiß, schläft besser“, lässt die Autorin eine Nebenfigur den Merksatz der Epoche sagen.

Den Irrsinn der Epoche in filmischen Einstellungen

Es sind Miniaturen, filmische Einstellungen, in die Ulitzkaja den Irrsinn einer Epoche fasst. Eine Frau liegt mit einem Liebhaber im Bett, als es klingelt. „Dein Mann?“ – „Unmöglich. Er ist auf Dienstreise. Am Weißmeerkanal...“ Jeder kannte die Ortsangabe als Synonym für den Gulag: Zehntausende Häftlinge hatten den Kanal in Handarbeit ausheben müssen.

Tragikomisch ist das „Geständnis“, das die Ehefrau eines in Quarantäne genommenen hohen Gesundheitsfunktionärs ablegt. Der NKWD-Mann will’s gar nicht wissen, sie aber, um sich selbst zu retten, verlangt, alles zu Protokoll zu geben – alles, was unweigerlich die Aburteilung als „Volksfeind“ zur Folge hatte.

Und tatsächlich, als schon bald die Quarantäne aufgehoben ist, wird besagter Gatte verhaftet. Die Geheimpolizei vergisst nichts, schon gar nicht zu Protokoll gegebene Anschuldigungen.

Todgeweiht schreibt er an Stalin

Todgeweiht, schreibt Stationsarzt Sorin einen Brief an Stalin, in dem er sich für seinen verhafteten Bruder einsetzt: „Das gesamte Leben meines Bruders, seine makellose revolutionäre Vergangenheit sprechen entschieden gegen die Anschuldigungen ...“ So wie Sorin dachten Millionen – dass nicht sein konnte, was so offensichtlich jeglicher Wahrscheinlichkeit widersprach. Millionen überzeugter Kommunisten verschwanden in den Lagern und kehrten nie zurück.

Ljudmila Ulitzkaja ist eine Chronistin des russischen Jahrhunderts, besonders aber der Sowjetzeit. Wie ein Gegengewicht zu den eher kurzweiligen, eben auf Kino berechneten Szenen des Seuchen-Buchs wirkt das zuvor vorgelegte 600-Seiten-Epos „Jakobsleiter“, das auf dem Zufallsfund der Briefe ihrer Großeltern aufbaut und das ganze Säkulum in eine ausgreifende Familienchronik bannt.

[Ljudmila Ulitzkaja: Eine Seuche in der Stadt. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Carl Hanser Verlag, München 2021. 112 S., 16 €.]

Das Politische und das Private, das Tragische und das Banale liegen bei ihr stets eng beieinander. Ulitzkajas Großvater war mehrfach zu Verbannung und Lagerhaft verurteilt worden und hatte nur wenige Jahre in Freiheit und mit selbst gewählter Arbeit zubringen dürfen. In der Familie wurden sein Name und damit die Stalin-Zeit beschwiegen.

Sie selbst, Jahrgang 1943, studierte Genetik, wurde jedoch nach drei Jahren an der Akademie der Wissenschaften gefeuert, weil sie Samisdat-Literatur vervielfältigt hatte. Mit der Erzählung „Sonitschka“ wurde sie 1992 international bekannt und legt seither Roman um Roman vor, mittlerweile in 17 Sprachen übersetzt.

Die höhere Wahrheit der Literatur

Für die deutsche Fassung ist stets Ganna-Maria Braungardt zuständig. „Im Buch werden zahlreiche Dokumente zitiert, einige davon habe ich erfunden“, hat Ulitzkaja zu „Jakobsleiter“ gesagt: „Mir war es wichtiger, der literarischen Wahrhaftigkeit zu folgen als der historischen Wahrheit.“

Das gilt nicht minder für das schmale Seuchen-Buch. Nichts darin ist erfunden. Es ist vielmehr die höhere Wahrheit, die Literatur den rohen Tatsachen zu geben vermag. Hier in Kurzform – Lektüre für einen Abend, nach der man mehr wissen will und tiefer graben, als die Pest-Episode hergeben kann.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false