zum Hauptinhalt
So soll das Deutsche Chorzentrum an der Karl-Marx-Straße aussehen.

© Simulation: Kaden und Partner

Neuer Kulturort für Neukölln: Die Zukunft liegt im Rudel-Singen

Der Deutsche Chorverband baut sich eine Zentrale in Neukölln. Zum Richtfest an diesem Freitag kommt auch Altbundespräsident Wulff.

Es wird ein Festakt von doppelter Symbolkraft: zum einen natürlich für das Singen an sich, das ja zurzeit unter besonders strenger Beobachtung steht, der Aerosolbildung wegen. „Der Deutsche Chorverband hat eine Geschichte von 155 Jahren, und wir denken jetzt an die nächsten 150 Jahre“, sagt Altbundespräsident Christian Wulff, der dem Verband seit 2018 vorsteht.

Wenn die Pandemie überstanden ist, da ist er sich sicher, werden die Leute sehr gerne wieder zum gemeinsamen Singen zusammenkommen. Allerdings immer seltener auf die traditionelle Art, in vereinsähnlichen Formationen, denen man jahrzehntelang angehört. Sondern eher auf Projektbasis: Rudel-Singen, vokale Flashmobs und Integrations-Chöre werden immer beliebter, beobachtet Wulff, gerade in der Hauptstadt.

Jeder Mensch besitzt ein eigenes Instrument: die Stimme

„Das Tolle am Singen ist, dass das Mitmachangebot extrem niederschwellig ist, weil jeder Mensch sein eigenes Instrument mitbringt, nämlich seine Stimme“, schwärmt der CDU-Mann. „In den Chören manifestiert sich die ,Bunte Republik Deutschland‘, die mir immer vorschwebte.“ Womit wir bei der Signalwirkung Nummer zwei wären, die vom Richtfest ausgeht.

Nicht in der schicken Mitte Berlins liegt die neue Repräsentanz der bundesweit 1,4 Million Laiensänger, sondern in Neukölln. In dem Bezirk mit dem überregional schlechtesten Ruf also. Und auch die Adresse Karl-Marx-Straße 145 ist nicht leicht zu schlucken für so manchen kleinstädtischen Männergesangverein. Mal abgesehen davon, dass es sich hier um eine zwangsversteigerte Schrottimmobilie handelt, aus dem Besitz einer arabischen Großfamilie.

„Ich gebe ehrlich zu: Ich hätte damals diese verwegene Entscheidung vielleicht nicht getroffen, nicht den Mut gehabt, das Projekt in diesem Gebäude voranzutreiben“, sagt Christian Wulff im Gespräch mit dem Tagesspiegel. „Das war schon ein verdammt mutiges Unterfangen. Aber heute sehe ich: Andere waren weitsichtig, und es wird nun klasse. Viele haben uns geholfen, ohne die es gescheitert wäre.“

[Jetzt noch mehr wissen: Mit Tagesspiegel Plus können Sie viele weitere spannende Geschichten, Service- und Hintergrundberichte lesen. 30 Tage kostenlos ausprobieren: Hier erfahren Sie mehr und hier kommen Sie direkt zu allen Artikeln.]

Zwei SPD-Politiker waren treibende Kräfte, Petra Merkel, die Vorsitzende des Chorverbands Berlin, sowie Wulffs Vorgänger Henning Scherf. Und der Haushaltsausschuss des Bundestags erhöhte seine Finanzzusagen, als sich die Kosten für das Neuköllner Projekt verdoppelten. 7,2 Millionen Euro, gut die Hälfte, werden von der nationalen Ebene beigesteuert, ein weiterer Geldgeber ist die Berliner Lotto-Stiftung, der Rest muss durch Eigenmittel, Kredite und erwartete Mieteinnahmen finanziert werden.

Christian Wulff ist nach anfänglichem Erschrecken mittlerweile absolut überzeugt von dem Standort. „Wir zeigen so, dass Chöre als Teil der Gesellschaft mitten im Leben sind. Hier wollen wir sehr vernetzt arbeiten – und uns auch modernisieren.“ Im Erdgeschoss des sanierten Gründerzeitbaus wird es eine musikbetonte Kita für 70 Kinder geben, unterm Dach soll die Chorjugend ihren Platz haben.

Altbundespräsident gleich Verbandspräsident. Christian Wulff kommt zum Richtfest.
Altbundespräsident gleich Verbandspräsident. Christian Wulff kommt zum Richtfest.

© dpa

Dazwischen liegen die Büros der Lobbyisten, neben dem Deutschen Chorverband wird der Landesmusikrat Berlin einziehen und auch das Education-Programm der Berliner Philharmoniker wünscht man sich als Mieter. Eine Drehscheibe soll das Verbandshaus zudem werden, Anlaufstelle zum einen für die vielen Chöre überall im Land, die hier Fachberatung und Serviceleistungen erhalten, zum anderen aber eben auch ein Ort, von dem aus die Kontakte zur internationalen Musikszene gepflegt werden. Und auch das „Deutsche Chorfest“ wird hier organisiert, zu dem jeweils rund 20 000 Sangesfreudige strömen.

Weil der Heimathafen Neukölln der direkte Nachbar ist, braucht das Verbandshaus keinen eigenen Veranstaltungsraum. Zum historischen, in der Szene bestens eingeführten Saal des Heimathafens ist es nur ein kurzer Weg über den gemeinsamen Hinterhof. Im Chorzentrum sollen vor allem Fortbildungen für Chorleiter angeboten werden sowie Seminare für Erzieherinnen. Mit einem eigenen Liederbuch, das Kinderlieder aus aller Welt versammeln wird, soll in den Kitas die Vielfalt der Kulturen singend erlebbar werden.

[Behalten Sie den Überblick über Neuigkeiten in Ihrem Berliner Kiez. In unseren Tagesspiegel-Bezirksnewslettern schauen wir auch auf Ihre Nachbarschaft. Kostenlos und kompakt: leute.tagesspiegel.de.]

Mit nur 15 Monaten Verspätung liegt das anspruchsvolle Bauprojekt für Berliner Verhältnisse überdurchschnittlich gut im Zeitplan. Zumal auch hier der Denkmalschutz mitreden durfte und der Seitenflügel des Hauses um zwei Etagen aufgestockt wird. Das Architekturbüro Kaden & Partner hat dafür eine raffiniert fünffach gefaltete Fassade entworfen.

Beim Festakt an diesem Freitag wird der Regierende Bürgermeister Michael Müller zuschauen, wie Christian Wulff den symbolischen letzten Nagel im neuen Dachstuhl einschlägt, spätestens im März 2021 sollen dann alle Mieter eingezogen sein. Zur feierlichen Eröffnung dürfte dann, mit vollem Recht, ein alter Berliner Gassenhauer erklingen: „In Rixdorf is’ Musike“.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false