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Olga Grjasnowa schickt gleich drei Protagonisten auf die Überholspur.

© Imago/Star-Media

Neuer Berlin-Roman von Olga Grjasnowa: Baku oder Berlin

Ihr erfolgreiches Debüt hieß "Der Russe ist einer, der Birken liebt". Nun Olga Grjasnowa erzählt in ihrem zweiten Roman "Die juristische Unschärfe einer Ehe" von einer Ballerina und ihrer Dreiecksbeziehung.

Einem sufistischen Mythos zufolge machten sich einmal 30 Vögel auf, um den Vogel Simurgh zu suchen. Dieser König unter den Vögeln besitzt die Fähigkeit, alle anderen zu erlösen. Der Schwarm überwindet Berge und Täler, manche sterben unterwegs, andere schließen sich an. Am Ende ihrer Reise stellen die 30 überlebenden Vögel fest, dass es gar keinen Vogel Simurgh gibt, sondern jeder einzelne von ihnen selber einer ist. Auch Olga Grjasnowa, die diese Geschichte erzählt, hat lange Reisen hinter sich. Die 1984 in Baku geborene Autorin kam in ihrer Kindheit als jüdischer Kontingentflüchtling zusammen mit ihrer Familie nach Deutschland. Sie studierte in Polen und Moskau, war für die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv und hat drei Schreibschulen absolviert, darunter die in Leipzig. Ein Leben in der Komprimierungszone. Das sich dabei vermittelnde Lebensgefühl ist auch Grjasnowas Figuren eigen, jener Mascha Kogan etwa, die sich im Debüt „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ (2012) zwischen Nahost-Konflikt, aserbaidschanischem Bürgerkrieg und deutschem Migrationsmilieu bewegt.

In „Die juristische Unschärfe einer Ehe“schickt die Autorin gleich drei Protagonisten auf die Überholspur. Und alle suchen nach dem weisen Vogel Simurgh. In diesem Fall ist es die aus einer Künstlerfamilie in Baku stammende Leyla, eine Ballerina, die am Bolschoi-Theater eine große Zukunft vor sich hatte. Dann kam der Sturz. Nun sitzt sie, Mitte 20, in Berlin bei ihrem Ehemann Altay, der als Assistenzarzt auf einer Drogenstation im Wedding arbeitet. Weil man in Moskau, von wo beide herkommen, für eine solche Stelle nämlich Schmiergeld zahlen muss.

Leyla und Altay leben zwar in Symbiose, sind sexuell jedoch mehrfach gestimmt. Leyla wiederum, die sich grammweise die Körner abwiegt und sich einem unmenschlichen Training unterwirft, hofft auf einen Neustart als Tänzerin: „Ihr Leben lang wurde sie darauf vorbereitet, eine Art Übermensch zu werden.“ In einer Bar lernt sie Jonoun kennen, eine weitere Versprengte, die dort jobbt. Während Leyla die Liebe ihrer schönen Mutter Salome erwarb, indem sie möglichst perfekt tanzte, fehlt der aus chaotischen jüdischen Verhältnissen stammenden Amerikanerin jeglicher Halt.

Im Kreuzberger Hinterhof rappelt es in der Dreierkiste

Alle drei sind sie Bedürftige, denn auch Altay, der eigentlich auf Männer steht, klebt an Leyla. Keine guten Voraussetzungen für die Dreierkiste im dritten Kreuzberger Hinterhof, es rappelt kräftig: Eifersucht, Überdisziplin und Selbstbezogenheit. „Die wichtigste Aufgabe eines jeden Menschen besteht darin, die Ehe zu verkraften“, ruft Grjasnowa ihre dänische Gewährsfrau Suzanne Brøgger („Sondern erlöse uns von der Liebe“) sinngemäß auf. Derlei feministische Deklarationen klangen schon vor 40 Jahren reichlich platt, und in der genderdiskursiven Verkleidung wirken sie unfreiwillig komisch: „Das Wegdenken der heteronormativen Werte bereitete ihr mehr Probleme, als sie zugeben mochte“, erfährt man über Jonoun. Spricht man so im neuen Geschlechterland?

Der Roman setzt ein am existentiellen Nullpunkt, in einer Gefängniszelle in Baku, nachdem Leyla aus Berlin geflüchtet ist und an einem der illegalen Autorennen teilgenommen hat, bei denen die gelangweilte Jugend ihre „letzte Möglichkeit der Revolte“ auslebt: „Der Westen hatte sie enttäuscht, war ihrer Kaufkraft nicht gewachsen.“ Der erste Teil des Romans erzählt in zurückzählenden Kapitelfolgen die Ereignisse in Berlin, Moskau und den USA bis zu dem Moment, als Altay mit Jonoun nach Baku fliegt, um Leyla aus dem Knast auszulösen.

Der zweite, im Kaukasus spielende Teil führt in den Kosmos der postsowjetischen Oligarchie Bakus, ihre Oberflächlichkeit und ihren simulierten Reichtum. Auf den alten Leninbüsten thront der Kopf der neuen Kultfigur Alijew, während die Korruption blüht und die Jagd auf Schwule zum Gesellschaftsspiel wird. Grjasnowa arbeitet mit scharfen Kontrasten und ironischen Schleifen: Hier die Pseudoliberalität des Westens, dort der hohle Glanz Bakus und die niedergehende kaukasische Provinz, in der die alte Freundlichkeit aufbewahrt scheint. Auch wenn die überaus genauen Beschreibungen nicht ganz frei von Klischees und Spruchbändern sind – „der Westen braucht den Diskurs über Homosexualität, um sich der eigenen moralischen Überlegenheit zu vergewissern“ –, verfügt Grjasnowa doch über ein ausgeprägtes Gefühl für Widersprüche im Detail. Etwa in der Szene, in der Altay und seine schwule Bekanntschaft von Jugendlichen angemacht werden und die Grundlage ihres Bettarrangements ins Rutschen kommt, als sich Altay als Muslim outet.

Was an dieser in schneller Kapitelfolge geradezu szenisch erzählten Geschichte am meisten überzeugt, ist die Versinnbildlichung von moderner Körpererfahrung und Lebensgefühl im Milieu des Balletts, was sicher auch darauf zurückzuführen ist, dass die Autorin gegenwärtig Tanzwissenschaft studiert. „Wenn man tanzt, hat man mit achtzehn bereits ein ganzes Leben hinter sich und mit zweiundzwanzig eine Karriere.“ In Leylas Leben dreht sich alles nur um diesen vom Leib entfremdeten, durch strenge Selbstkasteiung und in ständiger Schmerzüberwindung hergerichteten Kunstkörper. „Das Selbst wird vom Körper bestimmt“, heißt es, und von der Außensicht der anderen. An der Zurichtung dieses Körpers scheitert Leyla. Doch sie hat gelernt, den Schmerz zu verleugnen. So fliegt sie wohl weiter auf der Suche nach ihrem Simurgh.

Olga Grjasnowa: Die juristische Unschärfe einer Ehe. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2014. 264 Seiten, 19,90 €.

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