zum Hauptinhalt
Keine mault wie sie. Kathrin Angerer auf ihrer Stammbühne.

© Volksbühne/Luna Zscharnt

Neue Pollesch-Premiere an der Volksbühne: Wrestling ist Ausdruckstanz

René Pollesch kann auch Überlänge: Der Gute-Laune-Abend „Die Gewehre der Frau Kathrin Angerer“ an der Volksbühne.

Die Frage, worum es eigentlich ganz genau geht, war an Theaterabenden von René Pollesch noch nie leicht zu beantworten. Wo statt Plots Diskurse abschnurren und statt auf der sprichwörtlichen Bananenschale auf der Metaebene ausgerutscht wird, kann man schon mal in Verdichtungsnöte geraten.

Im Falle der jüngsten Berliner Pollesch-Premiere „Die Gewehre der Frau Kathrin Angerer“ – einem Abend, der bereits Anfang Juni bei den Wiener Festwochen herauskam und jetzt in der koproduzierenden Volksbühne gelandet ist – stellt sich die Frage allerdings besonders eklatant. Denn die Bühnenbelegschaft zeigt sich in diesem Fall genauso ratlos wie ihre Adressaten. „Was?“, mault die im Titel erwähnte Schauspielerin gleich in den ersten Minuten so formvollendet, wie man es seit Jahrzehnten von ihr an der Volksbühne kennt, in eine Livekamera auf der Bühne, „wieso denn Brecht? Das soll doch ein Tanzfilm werden!“

Ein Wrestlingfilm

Wie bitte? Tanzfilm? Wir drehen doch hier einen Wrestlingfilm, wirft jemand anders ein – freilich nur, um ebenfalls wieder ausgekontert zu werden. Nein, nein, „,Generäle über Bilbao‘ heißt der Film, der hier gedreht wird“, klärt Martin Wuttke die Kollegenschaft generös auf, nachdem er es kurz zuvor noch geschafft hatte, irgendwo die Jahreszahl 1938 zu platzieren. Das Drehbuch, schreitet Wuttke in diesem Theaternarrativ voran, basiere auf Brechts ein Jahr zuvor erschienenem Stück „Die Gewehre der Frau Carrar“ über den Spanischen Bürgerkrieg. „Ebenfalls 1938 hörten die Zeitungen in Nordamerika auf, über Wrestlingveranstaltungen zu berichten, weil man herausfand, dass das Ganze ein Fake – und der Ausgang der Wettkämpfe vorher festgelegt war“, schließt sich endlich der Kreis – und gibt Wuttke die Gelegenheit zur Pointe: „Sport unterschied sich damit vielleicht zum ersten Mal von Krieg.“

So wären im Wesentlichen die Assoziationspflöcke eingeschlagen, zwischen denen sich dieser Abend 105 Minuten lang buchstäblich hin und her dreht. Nein, das ist kein Druckfehler: Wir haben es bei den „Gewehren der Frau Kathrin Angerer“ tatsächlich mit einem Überlängen-Pollesch zu tun. Und auch sonst greift der Meister des 70-Minüters hier zur ganz großen Form. Nicht textlich – in dieser Hinsicht verharrt der Abend ganz auf dem Feld der fröhlichen Repräsentationstheaterbashings und der antagonistischen Widersprüche zwischen Subjektsein und Schauspielerschein, das schon die letzten Polleschs beackert hatten.

Gute-Laune-Abend

Große Form meint vielmehr, dass das alles optisch opulent ausagiert wird – was „Die Gewehre der Frau Kathrin Angerer“ zu einem regelrechten Gute-Laune-Abend macht; ohne überschüssige Diskursmasse, aber eben auch ohne Behauptung derselben. Eine Hommage ans frühe Hollywood mit kleinen melancholischen Vergänglichkeitsaufflackerungen, die im nächsten Moment stilsicher wieder weggeslapstickt werden.

Sein größtes Kalauer-Kapital schlägt der Abend aus der texttragenden (Film-)Drehthematik selbst: In der Mitte von Nina von Mechows Bühne befindet sich eine überdimensionale Apparatur im Stil eines gigantisches Rhönrads, die eine Bar beherbergt und sich aufs Stichwort „Drehen“ tatsächlich in die entsprechende (Kreis-)Bewegung setzt.

Frauen brüllen

Dank der raffinierten Bildkonzeption und spektakulären Live-Videoregie von Jan Speckenbach laufen da Schauspielerinnen die Wände – beziehungsweise, um im Pollesch-Textkosmos zu bleiben – die „Besetzungscouch“ hoch oder serviert Rosa Lembeck als wandelnde „Zweitbesetzung“ des Abends kopfüber Getränke.

Martin Wuttke und Thomas Schmauer verkörpern mit sichtlichem Genuss den performativen Widerspruch zu den gut geölten Wrestler-Bodys, über die ihre Kollegin Marie Rosa Tietjen sinniert. Und eine junge Tänzerinnen-Gruppe zitiert in stilsicherer Semi-Ironie den Revue-Girl-Topos, um sich später im Stil der „Heidi-Hoh“-Serie – ein Pollesch-Selbstzitat noch aus Vor-Castorf-Volksbühnen-Zeiten – die Seele aus dem Leib zu brüllen.

Zwischendurch fallen immer wieder lustige Bonmots und Pointen ab. „Auf meinem Grabstein soll stehen: Nun ist die Öffentlichkeit von ihm befreit“, frotzelt Wuttke etwa, ohne ihn in diesem Zusammenhang zu nennen, gegen den Abendtitelgeber Brecht an, der ja mit dem Grabsteinspruch liebäugelte: „Er hat Vorschläge gemacht. Wir haben sie angenommen“, weil, wie er fand, damit „wir alle geehrt“ seien.

Warten auf Diskurse

Sagen wir mal so: Während Polleschs Intendanz-Eröffnungsabend Mitte September an der Volksbühne offensiv Erwartungen unterlaufen wollte, folgt jetzt, mit diesem zweiten Pollesch, die offensive gute Laune. Was noch fehlt, sind neue Diskurse. Christine Wahl

Nächste Vorstellungen am 10., 16. und 30. Oktober

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false