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Michel Houellebecq bei einer Lesung auf der Frankfurter Buchmesse 2018

© Boris Roessler/picture alliance/dpa

Neue Essaysammlung "Ein bisschen schlechter": Auf Michel Houellebecq macht die Pandemie den Eindruck eines "Nichtereignisses"

Moralisch, katholisch, konservativ: Michel Houellebecqs angeblich letzte Essaysammlung "Ein bisschen schlechter".

Als Frankreich Anfang Mai dieses Jahres seinen ersten Lockdown fast schon hinter sich hatte, meinte endlich auch Michel Houellebecq ein Wort zur Pandemie sagen zu müssen. Er schickte einen Brief an den Radiosender France Inter, der dort verlesen wurde, „eine Erwiderung an einige Freunde", speziell Frédéric Beigbeder, Catherine Millet und Emmanuel Carrère.

Der Brief machte die mediale Runde, auch in anderen Ländern Europas, sorgte aber für kein allzu großes Aufsehen. Denn so richtig viel wollte Houellebecq zur Coronakrise und ihren Folgen nicht einfallen. Als „Virus ohne Eigenschaften“ bezeichnet er es zu Beginn seines Briefes, und die Pandemie macht für ihn trotz ihrer tödlichen Ausmaße „den seltsamen Eindruck eines Nichtereignisses“.

Houellebecq analysiert, was andere auch schon getan haben, dass nämlich die Coronakrise Veränderungen beschleunige, die es vorher schon gegeben hat: die fortschreitende Digitalisierung im allgemeinen, die durch sie katalyisierte Entfremdung der Menschen untereinander im speziellen.

Und Houellebecq glaubt, der Tod sei, anders als viele meinten, nicht wiederentdeckt worden, sondern spiele sich im Gegenteil wegen der Zugangsbeschränkungen noch mehr im Verborgenen ab: „Gestorben, ohne dass wir das geringste Zeugnis davon haben, beschränken sich die Opfer auf einen Zähler in der täglichen Statistik der Toten, und die Angst, die sich in dem Maße in der Bevölkerung ausbreitet, wie die Gesamtzahl steigt, hat etwas sonderbar Abstraktes."

Houellebecq liebt die Stooges und hat gerade Fontane entdeckt

Ohne zu ahnen, dass es in Frankreich einen zweiten Lockdown geben würde, schließt Houllebecq seinen Brief damit – erwartbar pessimistisch –, dass wir „nach der Ausgangssperre“ nicht in einer neuen Welt erwachen würden. „Es wird dieselbe sein, nur ein bisschen schlechter.“

Mit den letzten Worten hat sein deutscher Verlag Houellebecqs dieser Tage erscheinenden Essayband übertitelt, dem dritten nach „Die Welt als Supermarkt“ und „Ich habe einen Traum“. (Aus dem Französischen von Stephan Kleiner. Dumont Literaturverlag, Köln 2020. 200 S., 23 €.) Angeblich sein letzter, wie Houellebecq dem Buch als Werbung mitgegeben hat: Er wolle seine Gedanken und Meinungen nicht mehr öffentlich mitteilen, dieses seien seine letzten „Interventionen“, wie die Essaybände auf Französisch heißen.

Fast die Hälfte der deutschen Ausgabe besteht aus Gesprächen, die der Schriftsteller in den vergangenen Jahren geführt hat. Dazu kommen Vorworte, eben jener Brief, sowie die Lobrede auf Trump für das „Harpers Magazine“, die Anfang 2019 viel diskutiert wurde.

Im Vergleich zur französischen Ausgabe ist die deutsche stark gekürzt worden, wohl weil mancher Kontext von Houellebecqs Einlassungen außerhalb Frankreichs kaum bekannt ist. Es sind dann auch die vier langen Gespräche, die noch einmal aufschlussreiche Einblicke in Houellebecqs Meinen und Denken gewähren.

Sie zeigen einen Schriftsteller, der es einerseits versteht, so wie mit Frédéric Beigbeder für „Lui“, lässig vor sich hinzuplaudern; der über seinen Zigarettenkonsum genauso Auskunft gibt wie darüber, die Stooges großartig zu finden und gerade Theodor Fontane entdeckt zu haben.

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Andererseits, das merkt man jeder seiner Sätze an, ist er sich seiner Position als Provokateur und vermeintlicher Visionär nur allzu bewusst. Houellebecq spielt gern mit den Zuschreibungen für seine Person, und gegen Widersprüche hat er schon mal gar nichts: „Ich bin kein Nihilist, im Gegenteil, ich bin ein Konservativer wie Benoît Dutreutre“, sagt er zu Beigbeder.

Und im Interview mit der ihm gewogenen Literaturwissenschaftlerin Agathe Novak-Lechevalier: „Ich bin der Schriftsteller einer nihilistischen Ära und des Leidens, das mit dem Nihilismus einhergeht.“

In einem anderen Interview wiederum spricht er davon, nicht zu wissen, ob er konservativ sei, nur um zu erklären, dass der Mensch in einer sich ständig verändernden Welt nicht existieren könne: „Die Vorstellung eines permanenten Wandels macht das Leben unmöglich.“

Es geht in den Gesprächen weniger um literarische als um moralische und religiöse Fragen, um „gesellschaftlich Relevantes“, wie er selbst sagt, auch vor dem Hintergrund seines 2015 kurz vor den Charlie-Hebdo-Anschlägen veröffentlichten Romans „Unterwerfung“, der nicht zuletzt von der Machtübernahme einer islamistischen Partei in Frankreich erzählt.

Dem Schrecken einer Welt ohne Gott Ausdruck verleihen

Man könnte den Eindruck bekommen, Houellebecq habe sich verstärkt dem Katholizismus zugewandt. Und dass er ein Wiedererstarken der katholischen Kirche herbeisehnt, gerade in dem Gespräch mit dem jungen Chefredakteur der konservativen politischen Zeitschrift „Valeurs actuelle“, Geoffrey Lejeune.

So offenbart er dann an anderer Stelle: „Ich bin katholisch in dem Sinne, dass ich dem Schrecken einer Welt ohne Gott Ausdruck verleihe…. Aber nur in diesem Sinne.“

Vieles bleibt wie so oft bei Houellebecq in der Schwebe, klingt vage. Man weiß nicht immer immer, wo die Grenzen zwischen Ironie und einem moralischen Rigorismus verlaufen. Einmal gesteht er, „in praktischer Hinsicht ähnlich uneindeutig wie meine Figuren zu sein.“

Konturierter wird es immer, wenn Houellebecq seinen Werkzeugkasten öffnet, er auf seine philosophischen und literarischen Hausgötter und damit die Grundlagen seiner Literatur zu sprechen kommt: Auguste Comte, Blaise Pascal, Joris K. Hysmans, Schopenhauer. Das ist sein Kanon, aus diesem schöpft er, selbst wenn er mit Lejeuene einmal seiner Bewunderung für einen zwielichtigen zeitgenössischen rechten Denker wie Eric Zemmour freien Lauf lässt und diesen mit Thomas Manns „Zauberberg“-Figur Naphta vergleicht.

Corona? Ein grenzenloser, unbestimmter Zustand der Stase

Überraschend eindeutig ist Houellebecq schließlich in dem letzten, aktuellsten Text dieses Bandes. Darin geht es um den Fall Vincent Lambert, einen Wachkoma-Patienten, der nach einem sich über sechs Jahre hinziehenden Rechtsstreit im Sommer vergangenen Jahres keine lebenserhaltenden Maßnahmen mehr bekam.

Was Houellebecq empört hat, auch mit dem Argument, dass die Empfindungen und das Innenleben eines Wachkoma-Patienten völlig unbekannt seien: „Niemand kennt die Gedanken, die in ihrem Gehirn Gestalt annehmen.“

Es ist kein expliziter Text gegen die Sterbehilfe, den Houellebecq hier geschrieben hat, mehr ein Plädoyer für jedwedes Leben, für einen unbedingten Humanismus: „Ich erlaube mir die Schwäche, zu glauben, dass die Ehre einer Gesellschaft darin liegt, diesen beschwerlichen Luxus auf sich zu nehmen, den die Last der Unheilbaren, der Unfähigen für sie bedeutet. (…) Wenn es zur Gewohnheit wird, Monster zu beseitigen, gelten schon kleine Schönheitsfehler als Monströsität."

Und die Coronakrise? Zu dieser schweigt Houellebecq seit Mai wieder. Wie heißt es in die „Möglichkeit einer Insel“, dessen dystopischen Teil Catherine Millet als so visionär empfand: „Wir haben das Zwischenspiel des Werdens wieder geschlossen und schon jetzt einen grenzenlosen, unbestimmten Zustand der Stase erreicht.“ Tatsächlich ist mit diesen Worten der aktuelle Zustand während dieser zweiten Welle der Pandemie ganz gut beschrieben. Da braucht es wirklich keine weitere Corona-Einlassung von Michel Houellebecq.

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