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Am Tod ihres Babys zerbricht die Ehe von Sean (Shia LaBeouf) und Martha (Vanessa Kirby).

© Netflix

Netflix-Drama „Pieces of a Woman“: Schmerz einer verlorenen Mutterschaft

Vanessa Kirby brilliert in der Rolle einer jungen Frau, die ihr Baby verliert. Sie darf sich auch gute Chancen auf einen Oscar ausrechnen.

Von Andreas Busche

Es gibt viele gute Gründe, die klassische Drei-Akt-Struktur, die seit Jahrzehnten in Drehbuchseminaren gelehrt wird, zu ignorieren. Die Abkehr von Lehrsätzen eröffnet Freiheiten, kann aber auch zur Herausforderung werden. Die Netflix-Produktion „Pieces of a Woman“ des Ehepaars Kornél Mundruczó (Regie) und Kata Wéber (Drehbuch) bedient sich eines Stunts, der in der jüngeren Filmgeschichte seinesgleichen sucht.

Ihr Film beginnt mit der größtmöglichen Tragödie zweier Menschen und versucht in den folgenden 100 Minuten, die Scherben einer Ehe und, dem Titel zufolge, der zersprungenen Persönlichkeit seiner Protagonistin wieder zusammenzusetzen.

Die Exposition ist ökonomisch, sie dauert nur wenige Minuten. Sean (Shia LaBeouf) arbeitet auf dem Bau, die schwangere Martha (Vanessa Kirby) hat den letzten Arbeitstag im Büro hinter sich. Zuhause angekommen setzen die Wehen ein. Martha besteht auf eine Hausgeburt, aber ihre Hebamme ist verhindert, darum springt Eva (Molly Parker) ein. Damit beginnt eine Reihe von Komplikationen.

Die Geburtsszene dauert 23 Minuten

Die 23-minütige ungeschnittene Geburtsszene, für die Vanessa Kirby in Venedig zu Recht ausgezeichnet wurde, ist eine Tour de Force, sie rückt der Hauptdarstellerin auf den Leib. Benjamin Loebs Kamera wirkt in diesem intimsten Moment jedoch nie übergriffig, weil Mundruczó die Dynamik von Nähe und Distanz versteht. Kirbys Gesichtsausdruck durchläuft innerhalb von Sekunden ein Wechselbad der Gefühle: Schmerz, Wut, Liebe, Erschöpfung, sie schreit und flucht.

Martha stößt Sean von sich und lässt sich im nächsten Moment von ihm im Arm wiegen, unterstützt von den ruhigen Anweisungen der Geburtshelferin. Als das Herz des ungeborenen Babys erstmals zu langsam schlägt, ahnt man, dass diese Geburt kein glückliches Ende nehmen wird – doch da hat die Kamera das Publikum längst in ihrem Bann. Die Szene endet mit Sirenengeheul.

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Nur: Wie erzählt man eine Geschichte, die gleich in der ersten halben Stunde die emotionale Fallhöhe mit einem dramaturgischen Drahtseilakt so hochlegt? An diesem Problem laborieren Mundruczó und Wéber in der Verfilmung ihres eigenen Theater-Zweiakters, sie schlagen dabei die umgekehrte Richtung ein: totale emotionale Vergletscherung.

Autonomie des weiblichen Subjekts

Martha zieht sich nach dem Tod ihres Babys, das in ihren Armen stirbt, aus der Welt zurück, Sean sucht verzweifelt wieder Zugang. Für ihre Sprachlosigkeit findet „Pieces of a Woman“ aber nur hilflose Metaphern. Sie sammelt Apfelkerne, die sie im Kühlschrank keimen lässt, während die Küchenpflanzen verdorren; er erzählt Brückengleichnisse über innere und äußere Schwingungen.

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Mundruczó und Wéber haben selbst ein Kind verloren, für den Schmerz solch einer persönlichen Erfahrung finden sie aber keinen anderen Ausdruck als passiv-aggressive Entfremdung.

So ist „Pieces of a Woman“ letztlich mehr Schauspieler- als Autorenfilm. Die Ehre gebührt vor allem Vanessa Kirby, deren seismische Gefühlsschwingungen immer mal wieder in ihren versteinerten Gesichtszügen aufblitzen. Sie gibt Martha, die sich im Schmerz ihrer verlorenen Mutterschaft vergräbt, ihre Autonomie zurück.

Missbrauchsvorwürfe gegen Shia LaBeouf

In der am schönsten choreografierten Szene löst sich die Kamera während einer Familienfeier plötzlich aus der Gruppe und wandert mit der schweigenden Kirby minutenlang durch das Wohnzimmer, während die anderen im Hintergrund weiter plaudern. Der Film lebt von zwei Temperamenten.

Wo Kirby ihren Körper wie einen Schutzpanzer einsetzt, geht LaBeoufs Figur in ihren impulsiven Wutausbrüchen eher ballistisch. Sieht man sich dazu das im Netz kursierende Handy-Video an, das einen Tobsuchtsanfall gegenüber seiner Ex-Freundin Mia Goth dokumentiert, lässt das LaBeoufs „darstellerische“ Leistung in „Pieces of a Woman“ noch mal in einem anderen Licht erscheinen. Zuletzt erhoben die Musikerinnen FKA Twigs und Sia ähnliche Vorwürfe gegen ihn.

Aus solchen Gegensätzen zieht das Melodram im Herzen von „Pieces of a Woman“ durchaus einen perfiden Reiz. Doch ohne die märchenhaften Showeffekte seiner früheren Filme wirkt das menschliche Elend in Mundruczós erster englischsprachiger Produktion selbst ein bisschen wie ein Gimmick.

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