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Nachfahrin von Sklaven. Regisseurin Nadia Hallgren folgt der ehemaligen First Lady auf einer Buchtour durch 34 Städte.

© Nicholas Kamm/AFP

Netflix-Doku über Michelle Obama: Wer Macht hat, darf nicht nachlässig sein

Mehr als das Bonusmaterial zur Biografie: Die jetzt auf Netflix gezeigte Dokumentation „Becoming“ porträtiert Michelle Obama als nahbaren Star.

Wenn Michelle Obama mit ihrer Autobiografie „Becoming“ auf Tour geht, füllen sich keine Buchläden, sondern ganze Sportarenen mit jubelnden Fans. Wie ein Popstar wird die ehemalige First Lady 2018 gefeiert, als sie von Oprah Winfrey angekündigt in ihrer Heimatstadt Chicago die Bühne betritt.

Die Menschen stehen stundenlang an, um ihre Ausgabe signieren zu lassen und einen kurzen Moment mit ihrem Idol zu erhaschen. Und Michelle Obama gibt ihnen genau diese Aufmerksamkeit. „Wenn die Leute zu mir kommen, schaue ich nicht an ihnen vorbei. Ich sehe ihnen direkt in die Augen und höre zu“, erklärt sie aus dem Off.

Sie ist ein Star, aber keine Diva

Michelle Obama ist ein Star, aber alles andere als eine Diva. In ihrer Dokumentation „Becoming“ begleitet Regisseurin Nadia Hallgren die ehemalige Präsidentengattin auf einer Buchtour in 34 Städte kreuz und quer durch die USA. In Auftrag gegeben wurde der Film von der Produktionsfirma „Higher Ground“, die von den Obamas gegründet wurde, mit Netflix einen Exklusiv-Deal abgeschlossen und in diesem Jahr mit der Doku „American Factory“ schon einen Oscar gewonnen hat. Ein kritisches Porträt darf man hier also nicht erwarten.

Aber nur auf den ersten Blick wirkt die Dokumentation wie das filmische Bonusmaterial zu Obamas Autobiografie, die allein in den ersten fünf Monaten nach ihrer Veröffentlichung im November 2018 mehr als 10 Millionen Mal verkauft wurde. Der Rückblick und die kritische Abrechnung mit ihrer Zeit im Weißen Haus, die im Buch großen Raum einnimmt, wird in Film deutlich kürzer abgehandelt.

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Die Dokumentation konzentriert sich auf jene Michelle Obama, die nach acht Jahren als First Lady neue Wege für ihre politische Arbeit sucht. Die Buch-Tournee ist für sie auch eine Möglichkeit, sich endlich wieder unter das Volk zu mischen. Zurück zur Basis und zurück zur eigenen Herkunftsgeschichte. „Ich bin eine ehemalige First Lady der Vereinigten Staaten und eine Nachfahrin von Sklaven“ erklärt sie und schaut auf ihr Leben zurück, in dem sie sich den rassistischen Beschränkungen nicht beugen wollte. In einem Arbeiterviertel in der South Side von Chicago ist sie aufgewachsen.

Als Afroamerikaner herzogen, wanderten Weiße ab

Als die ersten afroamerikanischen Familien in den 70ern hierher zogen, wanderten die weißen Mittelstandsbürger aus Angst in die Suburbs ab. Auf den Klassenfotos kann man es sehen: Jahr für Jahr werden es weniger, bis die Schwarzen und Latinos unter sich sind. Der Vater stachelte seine Kinder zu mehr Leistung an, weil er am eigenen Leib erlebt hatte, dass ein Schwarzer zehn Mal besser sein muss, um einen guten Job zu bekommen.

Die Studienberaterin an der Schule riet der jungen Michelle trotz herausragender Zensuren davon ab, sich in Princeton zu bewerben. Sie schaffte es trotzdem und war eine der wenigen Afroamerikanerinnen dort, genauso wie danach als Jura-Studentin in Harvard.
Später als Rechtsanwältin lernte sie Barack Obama kennen. Der junge, gut aussehende Praktikant hatte große Träume und politische Ambitionen. Die Romanze auf Augenhöhe hat es mit Richard Tannes „My First Lady“ (2016) ins Kinoformat geschafft, genauso wie die Studienjahre des zukünftigen Präsidenten in Vikram Gandhis „Barry“ (2016).

Sie versucht, das Selbstvertrauen junger Menschen zu stärken

Für Michelle war Barack Obama eine Herausforderung, die sie nur zu gerne annahm. Auch heute blitzt in den Augen der 56-jährigen noch die Energie der Kämpferin. Ob in Workshops am College oder bei Zusammenkünften in der Kirchengemeinde versucht sie das Selbstvertrauen der jungen Menschen zu stärken, die sich in der Trump-Ära nun besonders verloren fühlen. Man spürt die Kraft, die Obama selbst aus diesen Begegnungen zieht, auch im Kontrast zu den bitteren Erinnerungen an die Zeit im Weißen Haus. Als Barack Obama 2009 sein Amt antrat, verkündeten viele Kommentatoren vorschnell das Ende der rassistischen Ära in den USA.

Im Film gesteht Michelle Obama, dass sie erhebliche Zweifel daran hatte, ob das Land reif war für einen afroamerikanischen Präsidenten. Der Jubel der Fans in der Arena kann nicht über den Hass hinweg täuschen, der den Obamas damals von denjenigen entgegenschlug, die keine Schwarzen im Weißen Haus wollten.

If they go low, we go high

Die Geschichte scheint Obamas skeptischer Einschätzung Recht zu geben. „If they go low, we go high“ lautete ihr Mantra, wenn die konservative Presse über sie herfiel. Ein Motto, das angesichts der Twitter-Schlammschlachten des Amtsnachfolgers aus einer anderen Zeitrechnung zu kommen scheint. Auch wenn der Name „Trump“ kaum fällt, macht der Rückblick schmerzhaft die gesellschaftliche Spaltung und den Verfall der politischen Kultur in den USA deutlich.
Schaut man sich an, welche Rolle Obama als First Lady im Vergleich zu den dekorativen Aufgaben Melania Trumps ausgefüllt hat, wird der Kontrast sichtbar. Einmal nimmt Michelle Obama indirekt auf den Amtierenden Bezug: „Wenn man Präsident der Vereinigten Staaten ist, sind Worte wichtig. Man kann Kriege auslösen und die Wirtschaft zerstören. Es ist zu viel Macht, um nachlässig zu sein.“ Unwillkürlich denkt man dabei an einen US-Präsidenten, der im Kampf gegen eine Pandemie die Einnahme von Desinfektionsmitteln empfiehlt.

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