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Ein junger Kanye West zeigt seinen Schmuck.

© Netflix

Netflix-Doku „Jeen-Yuhs“: Kanye West, der einsame Riese

Ein Stück Hip-Hop-Geschichte: Die dreiteilige Dokumentation „Jeen-Yuhs“ auf Netflix zeigt Aufstieg und Fall von Kanye West.

Die ganze Tragik des Kanye West offenbart sich in einigen flüchtigen Momenten der fast fünfstündigen Dokumentation „Jeen-Yuhs“. Es sind Momente der Selbsterkenntnis, aber auch der Warnung. „Wer bist du, dich Genie zu nennen?“, fragt sein Freund und Kollege Rhymefest den jungen Rapper. Genie entstehe durch Erfahrung und Entbehrungen – und überhaupt, so bezeichnen einen andere Menschen, nicht man sich selbst.

Die Szene erinnert an einen Dialog zwischen dem Rapper und seiner Mutter Donda. „Der Riese blickt in den Spiegel und sieht keinen Riesen“, sagt ihm seine Mutter. „Findest du, ich wirke arrogant?“, fragt West seine Mutter. „Nein“, antwortet sie. „Aber erinnere dich daran, auf dem Boden zu bleiben, dann kannst du gleichzeitig in der Luft sein.“

Die Szenen sind so tragisch, weil sie zeigen, wie weit sich der Künstler, der sich nun Ye nennt, entfernt hat von dem Kanye West von damals. Nach seiner Auseinandersetzung mit Rhymefest lacht er. „Ist es nicht witzig, dass ich mich überhaupt darüber aufrege, dass du mich nicht als Genie bezeichnen willst?“ Schon der junge Kanye West ist mit einem überbordenden Selbstbewusstsein und Geltungsdrang gesegnet. Aber er erkennt sich selbst dabei. Dieses Augenzwinkern ist ihm irgendwann abhanden gekommen. Auch davon zeugt die Doku-Reihe „Jeen-Yuhs“, deren dritter und letzter Teil am Mittwoch auf Netflix erschienen ist.

Regie führten Chike Ozah und Clarence „Coodie“ Simmons, der Anfang der 2000er seine Komiker-Karriere aufgab, um Kanye West mit der Kamera zu begleiten. Simmons kommentiert das Geschehen, ist kein neutraler Beobachter, sondern ein Vertrauter des Rappers. Zweimal schaltet er die Kamera aus, als West zu langen, erratischen Monologen ausholt. Aus Respekt für seinen Freund, der an einer bipolaren Störung leidet.

Alle vermissen den alten Kanye

Das Reden vom „alten Kanye“, den alle vermissen, ist zum geflügelten Wort geworden. Auf seinem Album „The Life of Pablo“ von 2016 rappt West selbst darüber. „I miss the sweet Kanye / chop up the beats Kanye“, heißt es dort. Die ersten beiden Teile der Dokumentation zeigen eben diesen Kanye, den talentierten jungen Produzenten, der sich unbedingt auch als Rapper beweisen will. Deshalb ist er von Chicago nach New York gezogen, produziert erstmal aber nur Beats für andere, darunter Jay-Z.

Herzerwärmend. Kanye West mit seiner Mutter Donda.
Herzerwärmend. Kanye West mit seiner Mutter Donda.

© Netflix

Während eines Interviews redet sich West in Rage, dabei fährt er durch das nächtliche New York. Er fühle sich als Star, habe große Träume. „Ich bin ein Rapper, ein Geschichtenerzähler, ein Liedermacher“, sagt er. Bevor er ein Auto hatte, habe er auf dem Weg zur Bahn immer seine Grammy-Rede geübt – einige Jahre später sollte er für sein Debüt-Album „The College Dropout“ den Grammy für das beste Rap-Album erhalten. Nach seiner leidenschaftlichen Rede fragt West den Journalisten, ob der bitte auch das Wort „fruition“, also „Verwirklichung“, mit in den Artikel schreiben könne, das wolle er jetzt eigentlich immer benutzen.

Es sind diese Momente, die zeigen, dass „Jeen-Yuhs“ kein eitles Projekt ist. Auch Wests Zahnspange ist Thema, ständig muss er sie herausnehmen, um deutlicher sprechen und rappen zu können. Herzerwärmend sind alle Szenen mit Wests Mutter Donda. Die Liebe zwischen Mutter und Sohn ist greifbar. Diese Momente, gepaart mit beeindruckende Sessions im Studio, machen „Jeen-Yuhs“ sehenswert.

West postet momentan viel auf Instagram

Aber man kann Kanye Wests Geschichte nicht betrachten, ohne an die Gegenwart zu denken. West postet momentan viel auf Instagram: Private Nachrichten seiner Ex-Frau Kim Kardashian und Morddrohungen gegen ihren neuen Freund, den Komiker und Schauspieler Pete Davidson. Zwischendrin auch Informationen über sein neues Album, „Donda 2“.

Das solle weder auf Spotify noch bei Apple zu hören sein, sondern exklusiv auf seinem Stem Player, einem Gerät, dass es den Zuhörenden erlaubt, die einzelnen Tonspuren selbst zu remixen. 200 Dollar kostet das Ding, West will damit die Musikindustrie verändert, wie er auf Instagram schrieb. Der Post ist inzwischen gelöscht, wie fast alles, was West dort hochlädt

The sweet Kanye: West in New York.
The sweet Kanye: West in New York.

© Netflix

Auf aufwendig inszenierten Listening-Partys des neuen Albums lief West mit einem Who is Who der Misogynie und Homofeindlichkeit auf. Darunter der Sänger Marilyn Manson, dem Misshandlung und Vergewaltigung vorgeworfen wird und der schon beim Vorgänger „Donda“ dabei war. Oder DaBaby, der wegen homofeindlicher Äußerungen in der Kritik steht.

Gefeatured ist auch der verstorbene Rapper XXXTentacion, der wegen häuslicher Gewalt verhaftet wurde. Am Mittwoch veröffentlichte West ein Video für die Singleauskopplung „Eazy“, in dem er eine animierte Version von Pete Davidson kidnappt und köpft. West scheint sich von jeglicher Selbstreflektion verabschiedet zu haben. Vor diesem Hintergrund wirken selbst die ersten Filme der Dokumentation schal, auch wenn sie eigentlich ein beeindruckendes Kapitel Rap-Geschichte zeigen. Im dritten Teil sind alle von Kanye Wests Träumen in Erfüllung gegangen. Es ist gleichzeitig der dunkelste, verstörendste Film der Trilogie.

Am Ziel aller Träume

Den Kontakt mit Coodie Simmons hat West nach ersten Erfolgen abgebrochen, so sieht der Filmemacher gemeinsam mit den anderen Fans nur von weiten, wie Donda West mit 58 Jahren stirbt, wie Kanye West von Präsident Obama als „Jackass“ bezeichnet wird, nachdem er der damals 19-jährigen Taylor Swift den Grammy aus der Hand riss. Er sieht, wie er Kim Kardashian heiratet, Vater wird. Seine immer erratischeren Auftritte, die schließlich mit einer Zwangseinweisung in die Psychiatrie enden. Später wird Kanye West, der sich immer für die Rechte von Schwarzen eingesetzt hat, Donald Trump unterstützen und Sklaverei als „frei gewählt“ bezeichnen.

Irgendwann kommen die beiden Männer wieder in Kontakt, Simmons begleitet West bei einer Reise nach Japan. „Als ich schon das Haus hatte, die Frau, die Kinder, die Auszeichnungen und den ganzen Kram, hatte ich immer noch suizidale Gedanken“, sinniert er da und spricht über seine Abhängigkeit von Percocets, Opiaten. Auch bei der Arbeit am Album „Donda“ ist Simmons dabei, in Wyoming und in der Dominikanischen Republik. Kanye Wests mentale Gesundheit ist da bereits im freien Fall, das ist deutlich zu erkennen. Ihm zuzuschauen wird immer unangenehmer.

Gegen Ende der Doku schaut sich Kayne West auf seinem Handy ein Video des „Fox News“-Kommentators Tucker Carlson an. Der spricht über eine Rede, die West im Rahmen seines Präsidentschafts-Wahlkampfs gehalten hatte. Darin verurteilte er Abtreibung aufs schärfste. Carlson findet gut, was der Rapper gesagt hat, der strahlt über beide Ohren. Endlich jemand, der ihn versteht. Kanye West, so scheint es, blickt in den Spiegel und sieht einen Riesen. Da ist er inzwischen wohl der Einzige.

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