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Wo die Wiener Würstchen Frankfurter heißen. Speisung beim Opernball mit Semmerl, Senf und Kren für 10, 50 Euro. Man kann in Österreich auch günstiger essen, auf jeden Fall aber besser.

© imago/SKATA

Neoliberalismus: Hyperneoliberal im Dschungelcamp

Was ist eigentlich neoliberal? Die Schriftstellerin Marlene Streeruwitz weiß es ganz genau. Im US-Magazin "Dissent" hätte ihr die ganze Bedeutungsvielfalt des Begriffs aufgehen können. Die Zeitschriftenkolumne.

Von Gregor Dotzauer

Im Gespräch mit dem Wiener Magazin „Profil“ zog die Schriftstellerin Marlene Streeruwitz Anfang Februar derart gegen die neue Regierungskoalition aus konservativer ÖVP und rechtspopulistischer FPÖ vom Leder, dass es fast für eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gereicht hätte. Bei Jörg Haider, dem verunfallten Kärntner Imperator der Freiheitlichen, erklärte sie, „ging es noch nicht darum, aus Österreich ein großes Dschungelcamp zu machen. Die FPÖ will Menschen aber inzwischen Schmerzen verursachen, sie in Lager sperren, sie außer Landes schaffen. Das schmerzhafte Leben der Wenigen soll der Mehrheit zu wohligem Schauer verhelfen.“ Um ihrer Abrechnung den nötigen Nachdruck zu verleihen, erfand sie sogar das Wort vom „digitalen Hyperneoliberalismus“. Die ÖVP, klagte sie, wolle „den neoliberal zugerichteten Menschen der Wirtschaft übergeben. Die FPÖ möchte die Person selbst bearbeiten, ihr Schmerz zufügen und den sadistischen Gewinn in Form von Wählerstimmen einkassieren.“ Sie schloss: „Rechte Politik will den Staat konsequent minimieren und kaputtschlagen, um restlos der neoliberalen Wirtschaft zuarbeiten zu können.“

Das Traurige an solchen Attacken ist, dass ihnen jede analytische Schärfe fehlt. Man mag als Österreicher im Büßerhemd gehen, oder als Ausländer drei Kreuze schlagen, keiner zu sein. Man mag das ganze Land als Opernball wahrnehmen, bei dem in den Logen der Jungunternehmer Max mit der schönen Winzertochter Marika poussiert, während in der Küche die Spüler schwitzen und auf dem Hof traurige Gestalten in den Abfalltonnen wühlen. Jenseits von satirischer Geißelung und Selbstgeißelung ist politisches Denken aber auf Konsequenzen angewiesen. Nicht nur, dass die Regierung, wie man hört, bis zum heutigen Tag nicht zurückgetreten ist. Marlene Streeruwitz wirft Begriffe durcheinander, mit denen gerade Linke sorgfältiger umgehen sollten. Vor allem das Schimpfwort „neoliberal“ hat jede Kontur verloren. Auch ist seine umstandslose Identifizierung mit „rechter Politik“ gedankenlos.

Verwendung und Missbrauch

2010 schaffte es die Frage „Was ist ,neoliberal’?“ sogar auf die Kinderseite der „Zeit“. Ein Zeichen dafür, wie viel länger die Differenzierungsbemühungen schon andauern müssen. In der aktuellen Ausgabe des Vierteljahresmagazins „Dissent“ (Winter 2018, dissentmagazine.org), einer Speerspitze der liberalen US-Linken seit 1954, untersucht der Ideenhistoriker Daniel Rodgers nun das Bedeutungsfeld aus angloamerikanischer Perspektive. Unter dem Titel „The Uses and Abuses of ,Neoliberalism’“ liefert er einen bestechend klaren Abriss der Interpretationen. Online wird der Essay von einem Forum mit vier Antworten und einer Replik von Rodgers flankiert.

Er zeigt, dass Neoliberalismus noch vor 20 Jahren in Debatten kaum eine Rolle gespielt habe, nach dem Finanzcrash der Jahre 2008/09 aber allgegenwärtig geworden sei. Inzwischen sei der Begriff ein „sprachlicher Allesfresser“, der nicht nur auf die Politik von Hillary Clinton und Donald Trump gleichermaßen angewendet werde, sondern auch kulturelle Gegenstände verschlinge.

Rodgers unterscheidet vier Verwendungsweisen. Die erste meint ein globales Finanzkapital, dessen Herrschaft weder durch die Deregulierungen eines starken Staats noch durch dessen Abwesenheit begründet wird. Sie ist Teil komplexer, transnationaler Strukturen, in die Politik vor allem im Fall eines Zusammenbruchs eingreift. Die zweite meint die mikroökonomisch aktualisierten Ideen des Österreichers Friedrich August von Hayek. Die dritte meint wirtschaftspolitische Maßnahmen nach dem Margaret-Thatcher-Motto „There is no alternative“. Die vierte schließlich meint die Unterwerfung aller menschlichen Eigenschaften unter die Gesetze des Marktes. Sowohl die Ungreifbarkeit dieser biopolitisch eingefärbten Bedeutungsvariante wie ihre Konjunktur bekümmern ihn besonders: Wer mit ihren Argumenten gegen den ordnungspolitisch einhegbaren Neoliberalismus der Marke eins und drei zu Felde ziehen wolle, werde nie Wähler außerhalb der Universitäten gewinnen.

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