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Nazi-Hetzer Alfred Rosenberg: Der Krimi um die Tagebücher von Hitlers Chef-Ideologen

Die verschollenen Tagebücher von Alfred Rosenberg sind in den USA wieder aufgetaucht. Ihr Inhalt ist wahrscheinlich weniger spektakulär als der Krimi über den mysteriösen Verbleib der Aufzeichnungen seit dem Ende der Nürnberger Prozesse. Unser Autor Ernst Piper kennt als Rosenberg-Biograf die Details.

Alfred Rosenberg war ein fleißiger Autor. Das Verzeichnis seiner Veröffentlichungen umfasst nicht weniger als 18 Seiten; unter anderem schrieb er „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“, das wichtigste nationalsozialistische Grundlagenwerk neben Hitlers „Mein Kampf“. Rosenberg war Chefredakteur des „Völkischen Beobachters“ und zahlreicher anderer Periodika sowie Autor zahlloser Bücher, Broschüren und Aufsätze. Und er führte von 1934 bis 1944 Tagebuch, seit der Zeit, als die Nazis an die Macht gelangt waren und Rosenberg als großer Ideologe, aber schwacher Politiker etwas in Abseits geraten war. In seinen Aufzeichnungen tröstete er sich über seine Bedeutung, wenn er zum Beispiel am 2. April 1941 notierte: „ ,Rosenberg, jetzt ist Ihre große Stunde gekommen!’ Mit diesen Worten beendete der Führer heute eine zweistündige Unterredung mit mir.“

Diese Sätze, die nach der Wiederentdeckung der über 60 Jahre lang verschollenen Tagebücher des Hitler-Vertrauten und NS-Chefideologen Alfred Rosenberg durch amerikanische Behörden jetzt mancherorts als große Sensation zitiert (und fälschlich auf 1942 datiert) werden, sind seit Jahrzehnten bekannt. Robert Kempner, der im Hauptkriegsverbrecherprozess in Nürnberg 1945 / 46 als Ankläger tätig war, hatte den Text 1971 in der „Frankfurter Rundschau“ publiziert.

Am Donnerstag präsentierten das Washingtoner Holocaust Museum und die US-Zollbehörde die rund 400 handgeschriebenen Seiten in Wilmington, Delaware, mit sichtlichem Stolz. Laut Zollbehörden-Direktor John Morton bieten die Aufzeichnungen Einblick in den „Geist einer dunklen Seele“. Museumsarchivar Henry Mayer glaubt gar, „dass Teile der Materialien die geschriebene Geschichte widerlegen“. Dies darf bezweifelt werden, doch dazu später. In jedem Fall kommt das langjährige Rätselraten über den mysteriösen Verbleib der Notizen mit dem Fund zu einem vorläufigen Ende. Auch wenn das letzte Kapitel im Krimi um Rosenbergs Tagebuch noch offen bleibt.

In Nürnberg hatten die Aufzeichnungen noch vorgelegen. Die Teile, die die Jahre 1934/35 und 1939/40 betreffen, waren von der Anklage als Beweismittel angeführt worden. Der aus Riga stammende Deutschbalte Hans-Günther Seraphim hatte sie 1956 sogar publiziert, nicht ohne Sympathie für den Verfasser. Aber wo das Original nach Ende des Prozesses hinkam, das lag allen Bemühungen der historischen Forschung zum Trotz seitdem im Dunkeln. Robert Kempner hatte in Nürnberg nach eigener Aussage Abschriften angefertigt und daraus zwischen 1948 und 1981 immer wieder kleinere Teile veröffentlicht. Aber das Tagebuch selbst stand schon früh nicht mehr zur Verfügung. So hatte der Internationale Militärgerichtshof am 19. August 1945 zwar entschieden, auch der Verteidigung Zugang zu gewähren. Rosenbergs Verteidiger Alfred Thoma vermerkte jedoch enttäuscht: „Von Kempner nicht ausgehändigt.“ Die Anklagebehörde teilte ihm mit, das Tagebuch sei „nicht auffindbar“. Folglich nährten Kempners spätere Veröffentlichungen das vor allem vom Neonazi David Irving verbreitete Gerücht, der Ankläger habe das Original beiseite geschafft und in seinen Besitz genommen.

Tatsächlich war Kempner selbst auf der Suche nach dem Tagebuch. Als er im „Spiegel“ im Januar 1963 eine Notiz fand, dass das sowjetische Außenministerium zwei Bände mit Rosenberg-Tagebüchern veröffentlichen werde, schrieb er an die Redaktion. Diese bat ihn jedoch, sich mit seinem Anliegen an die Botschaft der Sowjetunion zu wenden. Auch diese Spur verlief im Sand. Kempner starb 1993. Sein umfangreicher Nachlass liegt teils im Bundesarchiv in Koblenz, zum größeren Teil aber im Archiv des Holocaust Memorial Museum in Washington. Dorthin gelangte er erst etliche Jahre nach seinem Tod. Auch fehlten zahlreiche Dokumente, die 1993 noch vorhanden gewesen waren. Das Rosenberg-Tagebuch war jedenfalls nicht darunter. Erst dieses Jahr wurde es von Detektiven in einem Privathaus im Staat New York gefunden. Wie es dorthin gelangte, ist unklar. Das Holocaust Memorial Museum spricht lediglich davon, man sei Hinweisen nachgegangen. In anderen Medien heißt es, das Tagebuch sei bei Kempners früherem Sekretär gefunden worden. Wobei die Frage offen bleibt, wie es in dessen Hände gelangt sein soll. Alfred Rosenberg (1893 – 1946) war Deutschbalte. Seine Vorfahren kamen aus Lettland, geboren wurde er in der estnischen Hauptstadt Tallin (damals Reval). Er hatte in Moskau studiert, sprach fließend Russisch, erlebte die Revolution und prägte den Topos vom „jüdischen Bolschewismus“. 1918 kam er nach München und fand bald Anschluss an den Kreis um Adolf Hitler. Anders als andere führende Nationalsozialisten errang er nach 1933 jedoch keine staatliche Position. Erst nach dem Überfall auf die Sowjetunion kam seine eingangs zitierte „große Stunde“. Im Sommer 1941 wurde er Reichsminister für die besetzen Ostgebiete, war an der Rekrutierung sowjetischer Zwangsarbeiter für die deutsche Rüstungswirtschaft und an der Judenvernichtung beteiligt. Bei der Wannsee-Konferenz war sein Ministerium mit zwei ranghohen Mitarbeitern vertreten, auch oblag ihm die weitere Planung für die eroberten Gebiete. Der „Generalplan Ost“, der die „Verschrottung“ von 31 Millionen Russen vorsah, wurde in seinem Ministerium ausgearbeitet.

Der Hitler-Vertraute und Reichsleiter Alfred Rosenberg (1893 - 1946).
Der Hitler-Vertraute und Reichsleiter Alfred Rosenberg (1893 - 1946).

© Reuters

Wer sich mit Alfred Rosenberg beschäftigt, ist mit einer außerordentlich guten Quellenlage konfrontiert. Die Akten des Ostministeriums sind erhalten, einschließlich des Brieftagebuchs des Ministerbüros, ebenso die Akten des Einsatzstabs von Reichsleiter Rosenberg, der in den von der Wehrmacht besetzten Teilen Europas für den Kunstraub zuständig war. Die Forschung verfügt über eine Fülle von Korrespondenzen, Denkschriften, Sitzungsprotokollen, Aktennotizen, Verordnungsentwürfen und Niederschriften aller Art, bis hin zu Rosenbergs umfangreichen Aufzeichnungen während der Nürnberger Prozesse. Es gibt kaum einen Vorgang in seinem Leben, der nicht ausführlich dokumentiert ist. Große Sensationen sind deshalb vom jetzigen Tagebuch-Fund nicht zu erwarten. Wohl aber ergänzende Informationen, die unser Bild dieses Mannes an der einen oder anderen Stelle noch klarer werden lassen.

Ernst Piper lehrt Neuere Geschichte an der Universität Potsdam. 2005 erschien seine Biografie „Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe“ (Blessing Verlag).

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