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In „Ulkomaalainen“ („Der Fremde“) erzählt Regisseur Muammer Özer die Odyssee eines Arbeitsmigranten.

© Svenska Filminstitutet

Nationales Filmerbe: Das Kino hat keine Grenzen

Auch Filme können eine Migrationsgeschichte haben. Ist das Konzept „nationales Filmerbe“ heute überhaupt noch zeitgemäß? Ein Essay.

Ein türkischer Landarbeiter auf der Suche nach einer Möglichkeit, im Ausland Geld zu verdienen. Nach einem gescheiterten Versuch in der Bundesrepublik zieht er weiter nach Finnland, bekommt auf Umwegen eine Arbeitserlaubnis. Ein Gefühl von Ankommen will sich zwischen der Arbeit in der Fabrik und den schwierigen Lebensbedingungen nicht einstellen. „Ulkomaalainen“ („Der Fremde“, 1983) hat Regisseur Muammer Özer seinen Film genannt, der dieser Tage auf dem Festival „Film Restored" der Kinemathek läuft. Schwerpunkt ist die Migration von Filmen und Filmemacher:innen. „Ulkomaalainen“ wird vom schwedischen Filminstitut präsentiert, das den Film jüngst restauriert hat.

Özer liefert ein klassisches Beispiel für Migration im Film – vor und hinter der Kamera: Ein türkischer Filmemacher, der eine finnisch-schwedische Koproduktion über einen Arbeitsmigranten realisiert, die im schwedischen Fernsehen uraufgeführt wird. Ohnehin ist im Lebenszyklus der meisten Filme (zumindest in Europa) das Transnationale der Regelfall, das Nationale die Ausnahme. Das kann wie im Fall von „Ulkomaalainen“ als Koproduktion beginnen, die Fördergelder verschiedener Länder mit sich bringt. Özer kam aus der Türkei zunächst nach Deutschland, ging zur Filmausbildung nach Finnland und übersiedelte später nach Schweden. Seine Filmografie ist über diese Länder verteilt.

An drei Punkten in ihrem Leben werden transnational entstandene Filme renationalisiert: in den Pressemeldungen der jeweiligen Filmförderanstalten, rückblickend durch die Geschichtsschreibung – und in der Archivierung. Filmarchive haben in den allermeisten Fällen einen Sammelauftrag, der sich auf das „nationale Filmerbe“ beschränkt. Vor sechs Jahren bereits wies der Filmwissenschaftler Lukas Foerster aber auf ein Problem der deutschen Übersetzung von film heritage mit „Filmerbe“ hin. Die im Begriff Erbe implizierten kollektiven, nationalen Besitzverhältnisse stehen einem konstruktiven Umgang im Wege. Denn es sollte klar sein: Hier „erbt“ niemand.

Materielle Filmgeschichte möchte nicht besessen, sondern gepflegt werden. Filmgeschichte verheißt die Möglichkeit, sich selbst, individuell aber auch kollektiv, in einen Bezug zur Vergangenheit zu setzen. Restaurierung von Filmgeschichte bedeutet im Idealfall, ein neues Verhältnis zu Bildern zu finden, die zuvor unsichtbar waren. Die Renationalisierung bleibt für die Überlieferung von Filmen hingegen nicht ohne Folgen.

Archive brauchen einen transnationalen Fokus

Dabei ist in einem Film wie „Ulkomaalainen“ schon eine europäische, eine transnationale Utopie enthalten: ein Filmemacher, der in vier Ländern gearbeitet hat. Ebenso verheißt der Film statt des Transnationalen etwas Anationales – haben den Filmemacher und seinen Protagonisten (gespielt von Özer selbst) doch nicht die Grenzen der Nationalstaaten interessiert, sondern die Verhältnisse, die er vorgefunden hat.

In der Praxis zeigt „Ulkomaalainen“ aber auch: Filme rund um Migration wurden nicht selten realisiert von Filmemacher:innen, die weniger etabliert waren, sie griffen Themen von den Rändern der Gesellschaft auf. Entsprechend oft landen diese Werke weit unten auf der Liste von Filmen, denen sich kostspielige Restaurierungsprojekte widmen. Bei Özers Film ist es glücklicherweise gelungen.

In „Il valore della donna è il suo silenzio“ porträtiert Gertrud Pinkus Frauen aus Süditalien.
In „Il valore della donna è il suo silenzio“ porträtiert Gertrud Pinkus Frauen aus Süditalien.

© Deutsche Kinemathek

Von einer transnationalen Utopie ist die Archivpraxis letztlich gar nicht so weit entfernt. So beginnt jede Restaurierung damit, Filmmaterial auf der ganzen Welt zu lokalisieren. Archive fragen gegenseitig ihre Bestände ab. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass in der Vergangenheit nicht alle Filme in Archiven landeten. Die Gründe dafür gehen oft auf gesellschaftliche Konfliktlinien zurück.

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Wer etwa im Nationalsozialismus ins Exil gezwungen wurde, kümmerte sich womöglich in der Nachkriegszeit nicht in gleicher Weise darum, ob und was in Deutschland erhalten geblieben war, wie jemand, der im Nationalsozialismus weiterarbeiten konnte. Wer in den 1960er Jahren als Arbeitsmigrant nach Deutschland kam, in den 1970er Jahren in einer Medienwerkstatt arbeitete und Deutschland später verließ, übergab seine Hinterlassenschaften nicht immer einem Archiv.

Die Pflege einer inklusiven Filmgeschichte

Das Nachleben dieser Filme stellt Archive vor Probleme. Im Rahmen der Filmreihe „Fiktionsbescheinigung“ wies der Ko-Kurator Can Sungu kürzlich auf die vagen Kriterien bei der Förderung von Digitalisierungsprojekten hin. Das „Förderprogramm Filmerbe“ sieht vor, ausschließlich die Digitalisierung von deutschen Produktionen zu fördern. Was „deutsch“ definiert, muss im Einzelfall immer erst ausgehandelt werden.

Wer eine vielfältigere Filmgeschichte abbilden möchte, neue Facetten der eigenen Geschichte, sollte sich dafür einsetzen, dass Filme nicht länger durch das Nadelöhr einer Renationalisierung gehen müssen, um archivalische Pflege zu erhalten. Für eine inklusive Filmgeschichte ist unter anderem eine Entnationalisierung der Förderung nötig.

(Bis zum 7.11. in der Deutschen Kinemathek und dem Arsenal. Das Panel „Transnational Archive Efforts“ findet am 5.11. um 10 Uhr statt. Das Programm ist auch unter www.film-restored.de zu sehen)

Wer dafür Argumente braucht, wird bei „Film Restored“ fündig. Gertrud Pinkus nimmt in „Il valore della donna è il suo silenzio“ die Selbstauskünfte von Frauen aus Süditalien, die ihr Lebensweg in die Schweiz und nach Deutschland geführt hat, zum Ausgangspunkt filmischer Rekonstruktionen. Die Spielszenen sind mit Gesprächen unterlegt.

Alvaro Bizzarri nahm für seinen ersten Film eine Anstellung in einem Bieler Fotogeschäft an, um sich die Kamera des Geschäfts leihen zu dürfen. Sein Film „Lo stagionale“ („Der Saisonarbeiter“) zeigt die Probleme eines italienischen Arbeitsmigranten in der Schweiz, der darum kämpft, nach dem Tod seiner Frau seinen Sohn behalten zu dürfen. Das Filmerbe-Festival „Film Restored" macht die Perspektiven etablierter Institutionen wie der Deutschen Kinemathek ebenso sichtbar wie die Herausforderungen, die sich aus der kuratorischen Arbeit mit Filmen mit Migrationsgeschichte ergeben. Filmgeschichte verlief schon immer transnational. Die Pflege von nationalen Kriterien abhängig zu machen, ist widersinnig.

Fabian Tietke

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