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Nachruf: Ich bin ein freier Geist

Jules Dassin ist im Alter von 96 Jahren gestorben – Erinnerung an einen Filmemacher, der sich auf jeden Stil verstand.

Von Gregor Dotzauer

Wie viele Leben er gelebt hatte, wollte er vor elf Jahren beim Münchner Filmfest schon nicht mehr zählen. Da war Jules Dassin 85 und ein bezaubernder alter Herr, der das bittere Wissen, dass er sich nicht mehr unendlich oft verpuppen werde, mit der Demut desjenigen ertrug, der hoffte, die Götter für den Rest seiner irdischen Zeit gnädig zu stimmen. „Ich kann es nicht genießen, alt zu sein“, sagte er damals beim Gespräch in seinem Hotel und wirkte doch kaum älter als in dem Porträt „Keine zufällige Geschichte", das Charlotte Kerr 1983 über ihn und seine zweite Frau, die griechische Schauspielerin und spätere Kultusministerin Melina Mercouri, gedreht hatte. Da war er immerhin schon über 70.

Neben sieben Geschwistern als Sohn eines russisch-jüdischen Friseurs in Harlem aufgewachsen, hatte Dassin sich vom Schauspieler an Ben O. Schneiders New Yorker Yiddish Theatre zum Regisseur in Hollywood hochgekämpft und dann mit dem autoritären Studiosystem angelegt, woraufhin ihn MGM-Mogul Louis B. Mayer vor versammelter Führungsriege persönlich feuerte. Wenig später floh er aus dem Amerika der McCarthy-Ära nach England: Sein selbst unter Druck geratener Kollege Edward Dmytryk hatte ihn 1943 als Kommunist denunziert. Es blieb nicht die letzte Flucht. 1967 musste er nach dem Staatsstreich gegen Andreas Papandreou Griechenland verlassen und in Frankreich und der Schweiz wieder bei Null anfangen.

Wie viele Stile er als Filmemacher dabei durchlief, war ihm egal. „Ich werde vom Moment ergriffen, oder ich ergreife ihn, und ich sage mir: Das ist wieder eine andere Art von Film. Ich habe keine Philosophie, keine Herangehensweise, kein Selbstverständnis. Ich bin ein improvisierender Autorenfilmer. Ich stelle an meine Filme keine festgelegten Forderungen. Ich bin ein freier Geist.“ Künstlerisch wurde für ihn der italienische Neorealismus entscheidend. Seine Helden hießen Luchino Visconti und Vittorio de Sica, und als sein Schlüsselerlebnis betrachtete er Rossellinis „Rom, offene Stadt“.

Das Halbdokumentarische seines englischen Films „The Night and the City“ (Die Ratte von Soho, 1950) mit Richard Widmark steht dafür. Spuren davon sah man auch noch in „Rififi“ (Du rififi chez les hommes), dem Film Noir, mit dem er 1955 in Cannes als bester Regisseur seinen ersten großen Triumph feierte. In „Topkapi“ (1964), seiner finanziell einträglichsten Arbeit über einen Juwelenraub, war von einer eigenen Handschrift nichts mehr zu merken. Ohne jedes Bedauern, dass an ihm ein großer Künstler verloren gegangen sei, konnte er aber erklären, dass es sich um einen „dummen Film“ handle. Im Zweifel entschied sich Dassin immer für die Auftragsarbeit und den handwerklichen Pragmatismus.

Für jemanden, der in der Zeit der Wirtschaftsdepression groß geworden und von ihr politisch geprägt war, lag diese Mentalität von seinen Anfängen als Autor nahe. Dassin erzählte, wie ihn eine junge Schauspielerin einst ihrem Mann vorgestellt habe, „der eine große Nummer beim Radio war. Es war verantwortlich für ein buntes Programm, das auch jedes Mal einen zehnminütigen Sketch einschloss. Ich fragte ihn, weil wir zu jener Zeit nicht viel zu essen hatten, ob er mich einen schreiben lassen würde. Klar, sagte er. Sie werden sogar bezahlt. Ich fragte: Wie viel? Er sagte: 100 Dollar. Und ich: Mein Gott. 100 Dollar waren für mich damals wie eine Fata Morgana. Er wieder: Bringen Sie mir nächste Woche einen Sketch! Und ich brachte ihm noch am selben Abend einen, der auf einer Kurzgeschichte von Gogol basierte.“

Aus Amerika hatte Dassin seine Frau, die Geigerin Béatrice Launer und seinen Sohn, den späteren Sänger Joe Dassin, mitgebracht. Doch 1955 in Cannes begegnete er der Frau, die er zunächst als Hauptdarstellerin von Michalis Kakojannis „Stella“ auf der Leinwand gesehen hatte – und sein Leben für immer verwandelte. Melina Mercouris Art, sich zu bewegen, faszinierte ihn, während sie von seiner „Mischung aus Intellektuellem und Athleten“ eingenommen war. Damit begann ihre gemeinsame Geschichte, die erst 1994, mit Melina Mercouris Krebstod endete und mit Filmen wie der Komödie „Sonntags nie“ (1966) auch ihren Niederschlag im Kino fand. In Griechenland pflegte er bis zuletzt mit einer Stiftung das Erbe und Andenken seiner Frau.

Das heutige Kino mochte er nicht mehr. „Ich liebe Filme so sehr, dass ich die dauernden Enttäuschungen nicht ertrage.“ Was ihn am meisten enttäusche? „Die Stoffe“, sagte er, „die Hingabe an Special Effects, die mich höchstens verblüffen. George Lucas und Steven Spielberg sind brillant, aber sie machen Kinderfilme“.Und das Übermaß an Gewalt? „Diese Gewalt“, meinte er, „ist nicht wirklich gewalttätig. Sie ist nur eine fühllose, gleichgültige Herangehensweise, um Häuser in die Luft zu sprengen oder Leute in Zeitlupe durch Glasfenster zu befördern. Es gibt nichts Weitergehendes, es ist bedeutungslose Oberfläche.“

Sein Glück suchte er, nachdem er 1978 seinen letzten Film, eine Medea-Variation mit Ellen Burstyn und Melina Mercouri gedreht hatte, im Theater. „Es ist ein wunderbares Leben. Man hat die Wahl aus dem Repertoire der ganzen Welt, und es gibt nicht diesen Druck, den das Kino ausübt. Man sitzt an einem Tisch und redet und diskutiert und analysiert und fühlt sich wohl.“ Am Montagabend ist Jules Dassin in einem Athener Krankenhaus mit 96 Jahren gestorben.

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