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Kultureller Panoramablick. George Steiner (23. April 1929 - 3. Februar 2020).

© Leonardo Cendamo/imago/Leemage

Nachruf George Steiner: Der traurige Denker

Im Abklingbecken der großen Menschheitsideen: zum Tod des Universalgelehrten George Steiner

Von Gregor Dotzauer

Spät in seinem Leben musste er sich eingestehen: „Wenn ich bin, was ich bin, dann deshalb, weil ich kein Schöpfer war.“ Die wenigen Erzählungen und Gedichte, die George Steiner veröffentlicht hatte, erschienen ihm kraftlos gegen die theoretische Prosa, mit der er Weltruhm erlangte.

Doch die tiefe Trauer, die ihn dabei erfüllte, lebte nicht nur vom Gefühl des Versagens oder der Einsicht, den großen künstlerischen und philosophischen Ideen erst in den Abklingbecken des 20. Jahrhunderts begegnet zu sein. Diese Trauer, so formulierte er es 2005 in seinem Essay „Warum Denken traurig macht“, war für ihn eine schöpferische Schwermut eigener Art. Ausgehend von einer Bemerkung Schellings ging er darin der „unzerstörbaren Melancholie“ aller geistigen Prozesse nach, in der für ihn Reste einer „Hintergrundstrahlung“ lagen, die sich auch durch kosmologische Erkenntnisse rechtfertigen ließ. George Steiner, 1929 als Sohn österreichischer Juden in Paris geboren und 1940 mit seinen Eltern in die USA emigriert, war der letzte große Universalgelehrte unserer Zeit. Das englische Wort vom Polymath trifft auf ihn doppelt zu, weil er neben Literatur auch Mathematik und Physik studiert hatte.

Dreisprachig aufgewachsen, lag ihm, dem Komparatisten, das Übersetzen und Vergleichen gewissermaßen im Blut, und wenn er dabei die schnöde Gegenwart gegen die überwältigende Vergangenheit hielt, wurde ihm nicht nur wehmütig ums Herz: Ihm wurde schwarz vor Augen.

Kulturpessimist auf verlorenem Posten

Mit seinem Kulturpessimismus wusste er sich auf verlorenem Posten. Zugleich tat er alles, um aus dem ursprünglichen Affekt eine rationale Haltung zu entwickeln. Diese war mindestens so tief empfunden wie gedacht.

Steiners Werk war in vieler Hinsicht der Versuch, seinen Kulturpessimismus argumentativ zu belegen – angefangen bei seinem Essay „Der Tod der Tragödie“ (1962), der die Möglichkeit metaphysischen Denkens an die Leistungen der antiken Tragödie knüpft, bis zu seinem letzten Buch „Gedanken dichten“ (The Poetry of Thought), in dem er 2011 die unauflösliche Verwandtschaft von Philosophie und Poesie beleuchtete.

Es geht darin um das „mysterium tremendum der Metapher“ und, mit einem Wort des Anthropologen Claude Lévi-Strauss, um die Melodie als „das größte Rätsel in der Wissenschaft vom Menschen“.
Wie beziehungsreich er dabei auch seine Fährten legte: Stilistisch war es stets ein Vergnügen, Steiner zu folgen. Was das Gleichgewicht von Dichte und Transparenz betrifft, können ihm auf dem Gebiet des theoriegeschulten essayistischen Schreibens nur wenige das Wasser reichen.

Demut und Hochmut

Dennoch hatte er auch unter den Klügeren seiner Zunft zahlreiche Feinde. Die intellektuelle Demut, die er von den Heutigen einforderte, war mit einem stillen, nicht uneitlen Machismo behaftet. Und der Panoramablick auf alle Epochen und Kulturen, den er anstrebte, hatte Grenzen.

Als Kind seiner Zeit muss man Steiner den hartnäckigen Eurozentrismus wohl am ehesten nachsehen. Weniger verzeihlich ist, dass er von seinem intellektuellen Hochsitz aus gar nicht genau wusste, was er an den Niederungen der Populärkultur eigentlich verachtete. Schriftsteller wie Jonathan Franzen rollten mit den Augen, wenn man ihnen mit Steiner kam. Das hatte allerdings auch mit einem fehlenden Sinn für die Kehrseite des von ihm eingeforderten Ernstes zu tun. Der bekannte amerikanische Essayist Joseph Epstein zieh Steiner in einer Rezension von „Der Meister und seine Schüler“, einem Essayreigen über ein aus der Mode gekommenes Lehrmodell, einen Gipfel an Humorlosigkeit. Doch so schnell wird man mit diesem Nachfahren, der so gern ein Original gewesen wäre, diesem Rebellen gegen das Sekundäre, der über der Interpretation anderer Autoren selbst zum unverwechselbaren Autor wurde, nicht fertig. Steiner wusste, dass hinter die Moderne kein Weg zurückführt.

Kämpfer für eine Hierarchie der Ideen

Er kämpfte nur darum, über alle Gottesmorde, Umwertung der Werte und Ironiegewitter hinaus eine Hierarchie menschlicher Ideen zu retten. „Elite“, schrieb er, „bedeutet etwas ganz Einfaches: Es bedeutet, dass einige Dinge höher stehen als andere.“
Das ist die Provokation, die er seinen Lesern mitgibt – und der Stoff, an dem das Überleben der Geisteswissenschaften hängt. Es ist die Frage nach Sinn und Unsinn eines Kanons, wie ihn auch der kürzlich verstorbene Literaturwissenschaftler Harold Bloom befürwortete: Gibt es eine natürlich anmutende Autorität kultureller Hervorbringungen, und wie gehen wir mit den Machtverzerrungen um, denen sie unterliegen?

So wenig Steiner wusste, welche Energien in den denkferneren kulturellen Zonen schlummern, so wenig wissen umgekehrt die rücksichtslosen Demokratisierer, was sie an intellektuellem Glanz verabschieden.

Jenseits der Buchstaben

Eine der reizvollsten Möglichkeiten, sich George Steiners Welt zu erschließen, ist der gerade bei Kampa neu aufgelegte Gesprächsband „Ein langer Samstag“. Laure Adler durchquert darin mit ihm einmal Leben und Werk und erkundet auch seinen Blick auf die Wirklichkeit jenseits der Bücher.

Was Steiner in seinem Essay „Von realer Gegenwart“ in Kenntnis von Pol Pots Völkermord den menschlichen „Gnadenverfall“ nennt, beschäftigte ihn von Jugend an. Schon als 18-Jähriger versuchte er in seinem Essay „Über das traurige Wunder“ die „Barbarei“ zu ergründen, mit der tagsüber in Auschwitz, Bergen-Belsen oder Majdanek gefoltert und abends Mozart gesungen und Schubert gespielt wurde. Am Montag ist George Steiner mit 90 Jahren im englischen Cambridge gestorben.

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