zum Hauptinhalt
Widerspruch in gefährlichen Zeiten. Eric Hobsbawm 2008 in Wien. Foto: Roland Schlager/dpa

© dpa

Nachruf: Die Geschichte endet nie

Kapitalismus ist nie das letzte Wort: Zum Tod des britischen Historikers Eric Hobsbawm.

Er war ein Jahrhundertmarxist, schon deshalb, weil der britische Historiker Eric Hobsbawm1917, im Jahr der russischen Oktoberrevolution geboren, bis zuletzt jene parabelförmige Entwicklung des Sozialismus verfolgte, die sich als „Aufstieg und Fall“ beschreiben ließe. Seine „Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts“, berühmt geworden unter dem Titel „Das Zeitalter der Extreme“ bietet zusammen mit seiner Autobiografie „Gefährliche Zeiten“ ein einzigartiges Panorama der Kämpfe des von ihm so bezeichneten „kurzen Jahrhunderts“. Es dauerte vom Zusammenbruch der alten, vom Adel dominierten Mächte am Ende des Ersten Weltkriegs bis zum Zusammenbruch der neuen, von Kadern dominierten sozialistischen Supermacht nach 1989.

Der in Alexandria geborene, in Wien und Berlin aufgewachsene und 1933 als Hobsbaum nach London emigrierte österreichische Jude setzte sich noch in seinem jüngsten Buch „Wie man die Welt verändert – Über Marx und den Marxismus“ (aus dem Englischen von Thomas Atzert und Andreas Wirthensohn, Hanser, München 2012, 447 Seiten, 27,90 €) mit der Geschichte dieser Lehre auseinander. Und mit ihrer Zukunft. Diese Zukunft hängt aufs Engste mit der des Kapitalismus zusammen. Eben die sieht Hobsbawm im rhetorischen Meisterwerk des Marxismus, dem „Kommunistischen Manifest“, vorhergesagt. Es wurde kurz vor dem Ausbruch der 1848er-Revolutionen in Kontinentaleuropa von Marx und Engels in London veröffentlicht. Kurze Zeit später mussten beide ins Londoner Exil, wie auch Hobsbawm einige Generationen später dorthin ins Exil musste.

Das Manifest schildert in einer „düsteren, lakonischen Eloquenz“, wie Hobsbawm schreibt, „unübersehbar die Welt, in der wir 150 Jahre später leben.“ Es zeigt und – man muss es so sagen – feiert den Kapitalismus als erbarmungslosem Zerstörer der feudalen und lokalen Bindungen. Außerdem begreift es ihn als ein weltumspannendes System, als das er sich damals abzeichnete und zu dem er heute unentrinnbar geworden ist: „Was 1848 einem unvoreingenommenen Leser als revolutionäre Rhetorik oder bestenfalls als plausible Prognose erscheinen mochte, kann heute als eine knappe Beschreibung des Kapitalismus am Ende des 20. Jahrhunderts gelesen werden“ – und zu Beginn des 21., ließe sich ergänzen. Auf dieser frühen Vorwegnahme der aktuellen Gegenwart wie der allernächsten Zukunft des Kapitalismus ruht für Hobsbawm die fortdauernde Berechtigung einer marxistischen Analyse.

Wäre Eric Hobsbawm, neben seiner langjährigen Professur am Birkbeck College der University of London an vielen Eliteuniversitäten zu Hause, ein weniger akkurater Gelehrter und gegenwartsbewusster Interpret der Vergangenheit gewesen, man könnte meinen, er plädiere für ein Zurück zu den Ursprüngen. Das ist jedoch nicht der Fall. Historiker sind Spezialisten der Veränderung, der Wandel ist ihre Leidenschaft.

In diesem Geist zeichnet Hobsbawm in großen Bögen die Einflussgeschichte des Marxismus nach, von den Zeiten des Kommunistischen Manifests bis zur Jahrtausendwende. Zwei Aufsätze widmet er den Gefängnisheften und -briefen des italienischen Kommunisten Antonio Gramsci (1891–1937), für ihn „der originellste Denker, den der Westen seit 1917 hervorgebracht hat“; ebenfalls zwei dem philologischen Schicksal der Marx’schen Schriften, die vor dem Kapital entstanden sind; und einer dem Thema „Marx, Engels und die Politik“. Die meisten Aufsätze waren schon vorher publiziert, wenn auch in veränderter Form oder an eher abgelegenem Ort. Neu ist der einstimmende Aufsatz über „Marx heute“.

Als marxistischer Denker war er mit der Tatsache konfrontiert, dass die revolutionäre, sozialistische Linie des Marxismus gescheitert und die reformistische, sozialdemokratische im Niedergang begriffen war. Die „goldene“ Epoche der Sozialdemokratie, wie Hobsbawm im „Zeitalter der Extreme“ die Zeit der westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten während der siebziger Jahre bezeichnete, ist unwiederbringlich vergangen. Auch deshalb, weil nach dem Zusammenbruch des Sozialismus im Osten der Reformdruck auf den Kapitalismus im Westen nachgelassen hat. Hinzu kommt die auch zahlenmäßige Auflösung der zu Marxens Zeiten gerade erst entstehenden Arbeiterklasse.

Gleichwohl ist das Thema einer marxistischen Kritik des Kapitalismus nicht erledigt. Mag auch mit der Auflösung des Proletariats als Klasse das historische Subjekt fehlen, dem der Hegelianer Marx die Synthesen der Zukunft aufgebürdet hatte, so leben überall auf der Welt proletarisierte Subjekte, die unter materieller Armut, sozialer Benachteiligung und politischer Unterdrückung leiden. Es „bestehen die Kluft zwischen Reich und Arm sowie die Spaltungen zwischen gesellschaftlichen Gruppen mit divergierenden Interessen auch weiterhin, unabhängig davon, ob man solche Gruppen als ,Klassen’ bezeichnet oder nicht.“

Es ist deutlich zu spüren, dass dem politischen Denker Hobsbawm die geschichtsphilosophische Überzeugung von Marx, der Kapitalismus gehe mit schnellem Schritt seinem Zusammenbruch entgegen, vollständig abhanden gekommen war. Es ist aber auch zu spüren, dass der Historiker davon überzeugt blieb, dass die Geschichte nicht zu Ende ist, wie Francis Fukuyama 1989 glaubte und andere glauben machen wollte. Hobsbawm hält fest: „Mögen sich die gesellschaftlichen Hierarchien auch deutlich von denen vor 100 oder 200 Jahren unterscheiden, die politische Auseinandersetzung geht weiter, wenn auch nur noch teilweise in Form von Klassenpolitik.“

Das klingt nicht gerade nach revolutionärem Elan, aber wie hätte man den von einem Mittneunziger noch erwarten sollen? So wenig wie einen Zukunftsentwurf, zumal Hobsbawm mit Marx die in beider jüdischer Tradition verankerte Scheu vor Utopien teilte.

Die Zukunft ist offen, das ist das Beste, was sich von der Gegenwart sagen und aus der Vergangenheit lernen lässt. Nur für ihn persönlich hat sich jetzt ein Horizont geschlossen. In der Nacht zum Montag ist Eric Hobsbawm, der seit Jahren schwer krank war, im Londoner Royal Free Hospital mit 95 Jahren einer Lungenentzündung erlegen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false