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Wohlklang trifft Alptraum. Scott Walker (1943-2019).

© Jamie Hawkesworth/4AD

Nachruf auf Scott Walker: Der Klang eines erfrierenden Himmelkörpers

Vom Teenie-Star der Sechziger zum Pop-Enigma: Der große amerikanische Sänger Scott Walker ist tot.

Vor zehn Jahren entdeckten Astronomen einen so genannten Braunen Zwerg und gaben ihm den Namen SDSS 1416+13B. Diese Weltraumwinzlinge sind schwer nachweisbare, meist nur im infraroten Spektrum leuchtende Zwischenwesen, weder Planeten noch Sterne. Das Besondere an SDSS 1416+13B ist seine außergewöhnlich kalte Oberflächentemperatur von 227 Grad Celsius – und die musikalische Hommage, die ihm im Dezember 2012 in Form eines knapp 22-minütigen Songepos auf Scott Walkers 14. Soloalbum „Bisch Bosch“ zuteil wurde. 

Das Stück verbindet unheimliches Streichersirren, nervöses Schlagzeugtackern mit wilden Lärmausbrüchen und einem kryptisch-assoziativen Text, der mit den Zeilen „Infrared! Infrared!/ I could drop into the darkness!/ It’s so cold! Infrared!/ What if I freeze?/ And drop into the darkness?“ endet. Ein Himmelskörper imaginiert seinen Tod – es ist zum Herzerfrieren traurig, wie Scott Walker dieses fast unbegleitete Finale in den filigraneren Registern seiner Baritonstimme singt.

Von Kalifornien nach London

Mit „SDSS 1416+13B (Zercon, A Flagpole Sitter)“ entfernt sich der 1943 als Noel Scott Engel in Hamilton, Ohio, geborene Sänger viele Lichtjahre weit von der Musik, mit der er vier Jahrzehnte zuvor bekannt geworden war – eine Ausbruchsbewegung, die er in seiner Karriere immer wieder durchgespielt hat.

Der Klangkosmos, den Scott Walker hinter sich gelassen hat, lag im Swinging London der Sechziger. Hierher war er aus Kalifornien zusammen mit seiner Band The Walker Brothers gekommen. Gegründet 1964 mit John Maus, der sich John Walker nennt, nach dem Vorbild der Righteous Brothers, die ebenfalls keine Brüder waren. Der später hinzukommende Schlagzeuger Gary Leeds überzeugt die beiden, nach London zu gehen, wo sie bald zu Teenie-Idolen werden. Für eine Weile macht das Trio mit den typischen Topfschnitten der Zeit sogar den Beatles und den Rolling Stones Konkurrenz. Mit „Make It Easy on Yourself“ schaffen es die Walker Brothers 1965 an die Spitze der britischen Charts und wiederholen diesen Erfolg im Jahr darauf mit „The Sun Ain’t Gonna Shine Anymore“.

Inspiration Jacques Brel

Waren solche häufig von anderen geschriebenen Orchester-Pop-Balladen ihre Stärke, zeigt sich auf ihrem dritten Album „Images“ allmählich deutlicher Scott Walkers eigene Songwriting-Handschrift. Diese ist allerdings stark von seinem Idol Jacques Brel beeinflusst. Brel ist es denn auch, dem Walker nach dem Ende der Band im Jahr 1967 auf den ersten drei seiner vier legendären Soloalben aus den Sechzigern die Ehre erweist. So finden sich neben seinen eigenen Balladen auf „Scott“, „Scott 2“ und „Scott 3“ eine Reihe von übersetzten Coverversionen des belgischen Chanson-Stars. Darunter das eindrucksvolle „Amsterdam“, mit dem er sein Solodebüt von 1967 beschließt, und das David Bowie fünf Jahre später zu seiner eigenen Version mit dem Titel „Port of Amsterdam“ inspirierte. War Walker in seinem eleganten Crooning-Stil von Giganten wie Frank Sinatra und Tony Bennett beeinflusst, orientieren sich zahlreiche Kollegen wie eben Bowie, Nick Cave, Bryan Ferry oder Thom Yorke an dem Amerikaner, der in London heimisch geworden war. Und auch der junge Berliner Sänger Fabian Altstötter, der unter dem Namen Jungstötter gerade ein ausdrucksstarkes Debütalbum herausgebrachte hat, gehört zu den vielen Erben von Scott Walker.

Brutal-verstörende Soundgebilde

Mit „Scott 4“ bringt der Sänger 1969 sein erstes Album heraus, das nur Eigenkompositionen enthält. Es ist eines seiner besten, wird anders als die drei Vorgänger allerdings ein kommerzieller Flop. Was vielleicht auch daran liegt, dass Walkers sarkastische Beschäftigung mit Kriegsveteranen in „Hero Of The War“ genauso wenig massenkompatibel ist wie seine Fantasie über den zurückkehrenden Geist von Stalin in „The Old Man’s Back Again (Dedicated to the Neo- Stalinist Regime)“ – egal wie schön sie gesungen und arrangiert sein mögen.

Die Siebziger sind eine erratische Periode für Walker. Er nimmt belanglose Platten mit Coverversionen auf, bis es 1978 zu einer Wiedervereinigung der Walker Brothers kommt. Sie veröffentlichen das Album „Nite Flights“ und gehen wieder auseinander. Scott Walker wird zum großen Pop-Enigma, das sich kaum einmal interviewen lässt, nie auftritt, nur sporadisch Platten herausbringt wie 1984 das softrockige „Climate Of Hunter“ und 1995 „Tilt“, mit dem er in die Phase brutal-verstörender Soundgebilde eintritt. Dass Walker ein Leben lang unter schlimmen Träumen litt – man glaubt es sofort, auch wenn man das nicht minder nervenzehrende „Drift“ von 2006 hört. Zuletzt schrieb er Musik für Filme und arbeitete mit dem Doom-Metal-Duo Sunn 0))) zusammen. Der Song „Lullaby“ beschließt ihr gemeinsames Album „Soused“. Nach den neun sägend-dröhnenden Minuten wird wohl niemand ruhig schlafen. Für Scott Walker haben die Alpträume ein Ende. Am Montag ist er mit 76 Jahren in London gestorben.

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