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Nachruf auf Schlingensief: Schlingensief ging über alle Grenzen

Er wollte das Profane heiligen – und umgekehrt. Er riss den Boden auf, auf dem er stand. Er verbreitete Schrecken, keine Angst. Was immer er schuf, er wurde nie fertig. Am Samstag ist er in Berlin gestorben. Über den Künstler Christoph Schlingensief, einen Unersetzlichen.

Haltet an, haltet ein! Der größte Künstler dieses Landes ist gestorben, Christoph Schlingensief. Im Oktober wäre er 50 geworden. Im Oktober wollte er die Saison der Berliner Staatsoper im Schiller-Theater mit einer Uraufführung eröffnen, „Metanoia – Über das Denken hinaus“ heißt das Werk von Jens Joneleit.

Und Schlingensief ist immer über alle Grenzen gegangen.

Man vergisst ja leicht, dass Künstler Menschen sind – die uns etwas vorspielen, provozieren, unterhalten, quälen, die uns zu denken und zu fühlen geben, uns klüger und vielleicht empfindsamer machen, aufregen, bewegen.

Was immer er der Öffentlichkeit zugemutet und geschenkt hat: Gleichgültig ging man nachher nie seiner Wege.

Künstlerische Größe entzieht sich der Messbarkeit. Sie offenbart sich als Aura, als Energie, sie überrascht, verstört, überwältigt. Christoph Schlingensief besaß seltene Gaben im Überfluss. Wie Rainer Werner Fassbinder, wie Heiner Müller, wie Joseph Beuys, den er verehrte. Dem Erbe Richard Wagners hat er die Idee des Gesamtkunstwerks entrissen und es in unsere Zeit geworfen, die viele große Künstler kennt, aber kaum die Geduld hat für eine künstlerische Entwicklung hin zum großen Werk. Man muss keinen romantisierenden Geniekult im Stil des 19. Jahrhunderts betreiben, aber aus Schlingensief hat uns etwas angeschaut, sprang uns etwas an, das fremd war und zugleich vertraut. Fremd in unserer Gegenwart, vertraut aus der Beschäftigung mit Kunst vergangener Epochen.

Christoph Schlingensief zeigte öffentlich das Leiden eines todkranken Menschen, als er den Kampf mit dem Lungenkrebs aufnahm. Mit seinem Humor, seiner Wärme, mit dem Glauben an einen Gott, den man verfluchen will; denn er nimmt uns die Besten. Vor einem Jahr erst starb der Theaterregisseur Jürgen Gosch. Und Pina Bausch. Vor einem Jahr publizierte Christoph Schlingensief das „Tagebuch einer Krebserkrankung“, unter dem Titel „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!“ Bis zuletzt arbeitete er in diesem heißen Sommer an seinen Memoiren; sie sollen nach Auskunft seines Verlages im Lauf dieses Jahres herauskommen.

Noch im Februar war er nach Burkina Faso gereist und hatte den Grundstein für sein afrikanisches Operndorf gelegt. Die erste Produktion aus Ouagadougou, nach Luigi Nonos Menschheitsleidensoper „Intolleranza“, hatte vor wenigen Monaten in Brüssel Premiere. Er stand da selbst auf der Bühne. Er hat sich, vorsichtig ausgedrückt, nie geschont. Und auch nicht die, die mit ihm arbeiteten. Für die afrikanische Idee scheute er keinen Weg, keine Mühe. In sengender Hitze, auf dem staubigen Plateau, das ihm die Regierung des westafrikanischen Landes zur Verfügung gestellt hat, hielt er eine dreiviertelstündige Rede – von Göttern, von Menschen, von der Kunst, von der Sehnsucht, eine Schule, eine Krankenstation, eine Bühne für Musiktheater zu einem einzigartigen humanen Komplex zu verschmelzen. Die Einheimischen hatten ihn wie einen Häuptling eingekleidet. Eine Stahldose ruht dort in der Erde, mit Super-8-Filmschnipseln, die Vater Schlingensief Ende der Sechziger vom kleinen Christoph gedreht hatte. Die Krankheit war für ihn, wie es bei Susan Sontag heißt, keine „Metapher“. Seine Kunst war nie symbolisch. Er hat Rituale geschaffen. Er war ein großer Ich-Sager, Ich-Sucher, Ich-Erfinder.

Wenn es denn stimmt, dass die Kunst zur Religion der westlichen Zivilisation geworden ist – wovon die Rede ist seit Nietzsche –, hat Schlingensief sich damit nicht abgefunden. Er wollte das Profane heiligen und umgekehrt. Er hasste den Begriff vom enfant terrible, den ihm der Kunstbetrieb angehängt hatte. Nach dieser ignoranten Lesart wurde er 2004, als er in Bayreuth auf dem Grünen Hügel den „Parsifal“ inszenierte, zum seriösen Künstler. Bayreuth habe ihn krank gemacht, sagte er später. Burkina Faso sollte Heilung bringen, oder Linderung.

Man muss hier einhalten. Wenn man sein gewaltiges Arbeitsleben Revue passieren lässt, verschlägt es einem die Sprache. Was war er, was war er nicht? Was hat er mit uns und mit sich angestellt in den vergangenen 20 Jahren? Als Filmemacher hat er angefangen, wie man so sagt. Ein Kind der experimentellen Oberhausener Kurzfilmtage, er stammte von dort. Untergrund-Splatter-Produktionen, Gewalt, der Kampf mit den Nazi-Gespenstern, so sieht es beim jungen Schlingensief aus, das war die erste Maske, die er zu Markte trug. Immer mittendrin mit Haut und Haaren. Anfang der Neunziger nahm er die Berliner Volksbühne im Sturm. „100 Jahre CDU – Spiel ohne Grenzen“, „Kühnen ’94 – Bring mir den Kopf von Adolf Hitler“, „Rocky Dutschke 68“ und ein Happening im Volksbühnen-Prater mit dem Schlachtruf „Tötet Helmut Kohl!“: Man muss sich nur die Titel anschauen, um zu begreifen, dass hier jemand vor nichts zurückschreckte. Die deutsche Wiedervereinigung lief glücklich-unblutig – nicht bei Schlingensief. Er riss den Boden auf, auf dem er stand. Er verbreitete Schrecken, aber keine Angst. Und mochte man seine naiv-aufdringliche, jeglichen Widerspruch herausfordernde Präsenz nervig finden – böse war man ihm nie. Man hat ihm alles verziehen, ging immer wieder hin, magisch angezogen von dieser naiv-zerstörerischen Urkraft, die er versprühte.

Was immer er fabrizierte, es war nie fertig. Es gärte in ihm. Es war wie ein Feuer, das sich unterirdisch weiterfraß.

Im Jahr 2000 stellte er bei den Wiener Festwochen vor der Staatsoper Container auf. Darin waren eine Woche lang Asylbewerber untergebracht. „Ausländer raus! Bitte liebt Österreich!“, so hieß das Motto. Die Zuschauer konnten wie bei der damals heiß diskutierten „Big Brother“-Fernsehshow Menschen „herauswählen“. Wenn er ein Provokateur war, dann hat es nie einen sympathischeren, liebenswürdigeren gegeben. Seine Terror-Maske war durchscheinend. Wie schnell hat er sie abgelegt und eine neue Maske aufgesetzt; als Talkshow-Gastgeber, als Installationskünstler mit seinem „Animatographen“, als aggressiv-verspielter Kommentator des Irakkriegs, als Inszenator, der das Theater abschaffen wollte.

Auf seine Art und Weise ist ihm das gelungen.

Er hat das Theater – wieder in Wien, es war an der Burg – in ein Maleratelier verwandelt und in ein Opernlaboratorium. Man hat ihm dabei zugesehen, wie er seine Masken vernichtete. Wie Beuys und Wagner umgeschmolzen wurden zu einer seltsamen Masse – und Messe. Mit welchem Schmerz diese künstlerischen Tötungsrituale verbunden waren, das ahnte man bei der „Mea Culpa“-Produktion. Ja, es war alles seine Schuld und Pflichtigkeit. Alle Verwandlung ging durch ihn, der ehemalige Messdiener hat es sich nicht leicht gemacht, zu einer dadaistischen Priestergestalt zu werden. Zum Schamanen, dem Schamgefühl nicht fremd war. In seinem „Tagebuch einer Krebserkrankung“ schrieb er: „Die zentrale Frage muss daher sein, wie ich diesen alten Halligalli-Christoph mit seinem Bedürfnis, wahrgenommen zu werden und überall dabei zu sein, umbauen kann.“ Das diktierte er im Krankenhaus nach der Operation, bei dem ihm ein Lungenflügel entfernt worden war.

Heute ist nicht mehr zu sagen, wann das Heiligmäßige durchbrach bei ihm. Im April 2008 erlebten die „Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna“ von Walter Braunfels an der Deutschen Oper Berlin ihre Uraufführung. Wir haben geweint an diesem Abend – vor Erschütterung, vor Glück. Schlingensief war ans Krebsbett gefesselt, sein Team setzte seine Vorstellung von einem totalen Theater um, das nicht denkbar ist ohne Musik. Über den kreisenden Prozessionen auf der Bühne, die einem pulsierendem Organismus glich, hing eine riesige Lunge. Wie ein Lebensbaum. In einem Film, den er in Tibet gedreht hat und der im Hintergrund lief, verbrannte ein Leichnam.

Totgesagte leben länger. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Vielleicht streicht man diesen Unsinn aus dem Sprachgebrauch.

Er hat mit seiner Krankheit Unfassbares geleistet. Bei der Ruhr-Triennale 2008 zelebrierte er in einer stillgelegten Zeche in Duisburg die „Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“. Ein Gospelchor schreitet zum Altar – und marschiert rückwärts wieder heraus. Als könne man die Zeit zurückdrehen. Einige quälend schöne Minuten lang scheint es möglich. Überblendet das Leben den Tod.

Christoph Schlingensief ist am Samstag in Berlin gestorben. Seine Frau Aino war bei ihm und seine engsten Freunde.

Einige Wochen ist es her, da schrieb er eine SMS: „Ganz schöne Horrorzeit gerade. Diese verdammte Sache hat sich jetzt schon wieder woanders reingefressen ... Muss jeden Tag zur Bestrahlung. Das in dem dunklen Raum mit dem zirpenden Fotoarm erinnert einen an vieles: an Zikaden und an die Mahnung: esse keine Pfifferlinge aus Polen. Und nun leuchte ich schon nachts ohne Einsatz von Licht ...“

Warum nur hat er diese Bühne verlassen, die ihm immer zu klein gewesen ist?

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