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Ruth Klüger bei einer Rede vor dem österreichischen Parlament im Jahr 2011.

© Lisi Niesner, Reuters

Nachruf auf Ruth Klüger: Unbestechliche Gegen-Rednerin

Die Autorin und Holocaust-Überlebende Ruth Klüger ist wenige Wochen vor ihrem 89. Geburtstag in Kalifornien gestorben.

Energisch hielt Ruth Klüger im Backsteinambiente der Münchner Allerheiligenhofkirche den weißen Porzellanlöwen fest: So ein hübsches Katzerl habe sie unbedingt auch haben wollen, sagte sie mit charmanter Wiener Färbung, die sie auch nach Jahrzehnten in Kalifornien nicht abgelegt hatte.

Das war im Dezember 2016, als sich die Literaturwissenschaftlerin bei der Verleihung des Bayerischen Buchpreises für den Ehrenpreis des Ministerpräsidenten bedankte. Er galt dem schriftstellerischen Lebenswerk der damals 85-Jährigen, insbesondere ihrer 1992 erschienenen Autobiografie „weiter leben. Eine Jugend“. Stets erfrischend skeptisch entgegnete sie, ob sich ein Leben überhaupt als Gesamtwerk sehen lasse. Und sie verwies auf ihre „Urerfahrung, dass die Schwachen nicht auf Schutz rechnen dürfen“.

Diese elementare Angst rührte aus ihrer Kindheit. „Ich komm nicht von Auschwitz her, ich stamm’ aus Wien“, wird Ruth Klüger oft zitiert. Dennoch prägte das frühe Lagerkapitel ihr Leben. 1942 wurde die Tochter eines jüdischen Wiener Frauen- und Kinderarztes, der wie ihr Halbbruder dem Holocaust zum Opfer fiel, mit ihrer Mutter deportiert: nach Theresienstadt, Auschwitz und schließlich ins schlesische Christianstadt, eine Außenstelle des Konzentrationslagers Groß-Rosen.

Weiterleben als Zufall

Beim Holocaust-Gedenktag am 27. Januar 2016 sprach Ruth Klüger im Bundestag über ihre Erlebnisse als Zwangsarbeiterin. Die sogenannte Selektion in Auschwitz überlebte die Elfjährige nur, weil sie sich für 15 ausgab. Eine Schreiberin habe einem SS-Mann suggeriert, das Mädchen sei kräftig und könne arbeiten. Daher verdanke sie ihr Weiterleben „einem Zufall und einer gütigen jungen Frau“, so Klüger.

Sie grub Baumstümpfe aus, schuftete im Steinbruch und in einer Munitionsfabrik. 1945 glückte ihr mit der Mutter auf einem Gefangenenmarsch die Flucht. Angela Merkels „Wir schaffen das“ lobte sie zum Abschluss ihrer Gedenkrede als „schlichten und heroischen Slogan“.

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Nach dem Krieg legte Ruth Klüger in Straubing das Notabitur ab und wurde mit 15 an der Theologisch-Philosophischen Hochschule in Regensburg immatrikuliert, wo sie Martin Walser kennenlernte. 2002 kündigte sie ihm spektakulär die Freundschaft, als Walsers allgemein als antisemitisch empfundenes Roman-Pamphlet „Tod eines Kritikers“ erschien.

Dem darin indirekt geschmähten Marcel Reich-Ranicki blieb sie vor allem als Autorin für dessen „Frankfurter Anthologie“ verbunden. Die Feministin („Frauen lesen anders“) und den Nicht-Feministen MRR („Frauen dichten anders“) hatte einst die deutschsprachige Lyrik getröstet – ihn im Warschauer Ghetto, sie im KZ.

Die Kleist-Spezialistin unterrichtete in Göttingen

1947 wanderten Mutter und Tochter in die USA aus. Ruth Klüger studierte Bibliothekswissenschaft und Germanistik und begann ihre akademische Laufbahn an der University of Virginia. Lange publizierte die Mutter zweier Söhne unter ihrem Ehenamen Ruth K. Angress; die Scheidung empfand sie als Befreiung.

Ab 1988 wurde für die Kleist-Spezialistin Göttingen, wo sie eine Gastprofessur innehatte, zur Drittheimat neben dem siebten Wiener Bezirk und den USA.

Ein schwerer Verkehrsunfall führte zu ihrer Autobiografie „weiter leben. Eine Jugend“ (Wallstein). Das Buch benennt so atemberaubend genau und unsentimental die Schrecken des Nationalsozialismus wie Klügers Überlebenswillen, dass es zu einem gefeierten Bestseller wurde.

Immer hätten sie die Zusammenhänge von Poesie und Politik interessiert, schrieb sie 2018 im Vorwort zu der von ihr herausgegebenen und kommentierten Gedichtsammlung „Gegenwind“ (Zsolnay). Am 6. Oktober ist die unbestechliche Gegen-Rednerin Ruth Klüger im kalifornischen Irvine wenige Wochen vor ihrem 89. Geburtstag gestorben.

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