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Zwangskosmopolit. György Konrád (2. April 1933 bis 13. September 2019).

© imago/Hans Scherhaufer

Nachruf auf György Konrád: Der politische Antipolitiker

Er überlebte den Holocaust und wurde zum Zwangskosmopoliten: Zum Tod des ungarischen Schriftstellers und leidenschaftlichen Mitteleuropäers György Konrád.

Von Gregor Dotzauer

Gibt es noch einen Traum von Mitteleuropa, fragte er 1985 im „Kursbuch“ und erklärte sogleich: „Ja, es gibt noch einen Traum von Mitteleuropa. Er erfordert jedoch einige Bildung, historische Einsicht und philosophische Unvoreingenommenheit. Die Massenkulturen sind national, Der mitteleuropäische Traum ist kein massenkulturelles Phänomen, er ist romantisch und subversiv.“

György Konrád schrieb dies, als diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs nukleare Mittelstreckenraketen noch ganz Europa in Schutt und Asche legen konnten.

Um einen politischen Traum handelte es sich dabei allenfalls indirekt. Denn was zu seiner Erfüllung hätte führen können, nannte er ausdrücklich „Antipolitik“. So hieß auch sein parallel erschienener Essayband, dessen Ideen eine kurzzeitige Diskursblüte erlebten, bevor sie im realpolitischen Wandel vertrockneten. Antipolitik, das meinte die Gegenentwürfe von Künstlern und Intellektuellen und ein zivilgesellschaftliches Rückgrat abseits parlamentarischer Repräsentation.

Kurz: alles, was die Teilung Europas, die Roosevelt, Churchill und Stalin mit der Konferenz von Jalta im Februar 1945 auf den Weg gebracht hatten, mental aufheben könnte. „Mitteleuropäer zu sein“, schrieb Konrád, „ist eine Weltanschauung, keine Staatsangehörigkeit.“

Vorsitzender des P.E.N., Präsident der Akademie der Künste

Anders als seine prominenten Mitstreiter, Männer des geschriebenen Wortes und antikommunistische Dissidenten wie er, drängte es den Ungarn nie in die politische Verantwortung. Der Pole Adam Michnik war Mitbegründer der Bürgerrechtsbewegung Komitet Obrony Robotników und Berater der aus ihr hervorgegangenen Solidarność. Václav Havel wurde bekanntlich der erste Nachwende-Präsident der Tschechoslowakei. György Konráds höchste Ämter blieben der Vorsitz des internationalen P.E.N. von 1990 bis 1993 und die Präsidentschaft der Berliner Akademie der Künste in den Jahren 1997 bis 2003.

In ihm schlug zu sehr das Herz eines fabulierenden Schriftstellers, der schon seinen Essays nur mit Mühe argumentative Zügel anlegen konnte. Was Jorge Semprún in seiner Laudatio zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001 als „dialektisches Denken“ rühmte, galt sowohl Timothy Garton Ash als auch Tony Judt, beide herausragende Chronisten der Umbruchsjahre, schlicht als widersprüchlich.

Den Ausschlag aber dürfte gegeben haben, dass Konrád nie zum nationalen Helden avancieren wollte. Er, der 1933 in Debrecen geborene und in der nahen Kleinstadt Berettyóújfalu aufgewachsene Jude, sprach zwar nicht nur für sich, aber aus seiner Perspektive und der Leidensgeschichte seiner Familie heraus.

Die Eltern entkamen er Deportation nicht

1944 entkam er den Häschern des Eichmann-Kommandos und damit der Deportation nach Auschwitz. In Budapest rettete ihm die Schutzbriefaktion des Schweizer Vizekonsuls Carl Lutz zusammen mit Zehntausenden anderer Juden das Leben. Von den 200 jüdischen Kindern in Berettyóújfalu überlebten nur sieben.

Die Eltern entkamen der Deportation nicht, kehrten aber von der Zwangsarbeit in Österreich wieder. In zwei durch ihre Lakonie ergreifenden Erinnerungsbüchern, „Heimkehr“ und „Glück“, lässt er diese Zeit noch einmal Revue passieren. In den Romanen ist die Lust an der erzählerischen Arabeske nicht zu übersehen.

Konrád stand als Soziologe in den Diensten des Budapester Planungsbüros für Städtebau, als er 1969 mit „Der Besucher“ debütierte. Er verarbeitet darin seine vorherigen Erfahrungen als Jugendschutzinspektor der Vormundschaftsbehörde. Erzählt aus der Perspektive eines sozialismusmüden Sozialarbeiters, entsteht das Panorama einer Gesellschaft, der es nicht gelingt, den alten Adam durch den Neuen Menschen zu ersetzen.

Bücher mit autobiografischem Kern

Am opulentesten geriet ihm vielleicht „Der Komplize“: die Tragödie eines Intellektuellen, der sich zum Anwalt der Arbeiterklasse macht und an der Beseitigung der eigenen Freiheit mitwirkt: „Mein Verstand nimmt die ganze Menschheit in seine Partei auf, um dann die Mitglieder der Reihe nach auszuschließen, zu guter Letzt auch sich selbst.“

1978 während eines DAAD-Stipendiums in Berlin geschrieben, entfaltet der in einer Nervenheilanstalt einsitzende Icherzähler hier das gesamte 20. Jahrhundert von der stalinistischen Zeit bis zum Gulaschkommunismus der 70er Jahre und gesteht: „In meinen Augen ist die Freiheit ein Instrument zur Aufrechterhaltung der Ordnung.“

Auch im „Komplizen“ steckt ein autobiografischer Kern. Denn die Konflikte mit dem Regime waren absehbar, als Konrád mit Iván Szelényi an der soziologischen Studie „Die Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht“ schrieb – die kühle Abrechnung mit Geistesarbeitern, die sich ihre Privilegien im Namen der Werktätigen durch blindes Einverständnis mit den Parteikadern erkauft haben.

Er arbeitete als Aushilfspsychologe

Kurzzeitig saß er in Haft, bis internationale Proteste Wirkung zeigten. Er arbeitete als Aushilfspsychologe in der Psychiatrie und war von 1978 an mit Publikationsverbot belegt. Währenddessen erschienen seine Bücher, etwa der Roman „Geisterfest“, der Auftakt zu einer dreiteiligen „Budapester Mythologie“, zuerst im Ausland, das er immer wieder als Zwangskosmopolit bereiste, ohne an dauerhafte Emigration zu denken.

Nach der Wende genoss er vor allem im Westen den Ruf einer moralischen Instanz. Mit seinem bedächtigen Auftreten und charmant akzentuierten Deutsch gewann er die Herzen vieler, vermochte manche aber auch vor den Kopf zu stoßen. Im November 1997 etwa, zum Gedenken an die Reichsprogromnacht, las er der versammelten Jüdischen Gemeinde in der Berliner Fasanenstraße mit Erinnerungen an seine Kriegserlebnisse die Leviten, als hätte er ein Publikum aus lauter Tätern vor sich.

Unmittelbar darauf zog er in der „FAZ“ gegen Peter Eisenmans geplantes Holocaust-Mahnmal zu Felde: Er wolle an dieser Stelle nichts Finsteres, sondern einen „Garten der Freuden“. 2005 korrigierte er sich: „Ein kleingläubiger, einfältiger Kritiker bin ich gewesen. Der Künstler hat recht. Rätselhafter und klarer hat er verwirklicht, was ich vorgeschlagen habe: Inmitten der Stadt hat er einen Spielplatz geschaffen.“

Mit 86 in Budapest gestorben

György Konrád, der nun mit 86 Jahren in Budapest gestorben ist, war ein eigensinniger und politisch in vielem erratischer Mensch. Noch sehend, welche mentalen Risse sein mitteleuropäischer Traum in Brüsseler Gestalt bekommen hatte, hielt er bis zuletzt an seinem Europa-Thema fest. Sein Abschiedsbuch, ein „Nachsinnen über die Freiheit“, wurde das „Gästebuch“: eine Sammlung von Reflexionen, die viele seiner Themen noch einmal zusammenbindet.

Am Schluss steht mit der Erinnerung an den Tod des Vaters die Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit. „Ohne den Vorgeschmack des Todes“, schreibt er, „wäre das Leben weniger genießbar.“ Und: „Der Verstorbene existiert nur, sofern wir uns an ihn erinnern.“ Darauf kann auch er sich nun verlassen.

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