zum Hauptinhalt
Demütiger Riese. Der Kontrabassist Gary Peacock.

© Eric Cabanis/AFP

Nachruf auf Gary Peacock: Flugstunden mit einem Koloss

Zwischen Albert Ayler und Keith Jarrett: Der stilprägende Jazzbassist Gary Peacock ist tot.

Von Gregor Dotzauer

Man muss den Kontakt zur Musik mindestens einmal gründlich verloren haben, um wieder so heimisch in ihr zu werden wie Gary Peacock. Schon als Schüler in Yakima, Washington, stieß er auf der Suche nach dem, was ihn schließlich zu einem der bedeutendsten Jazzbassisten des 20. Jahrhunderts machte, viele Türen auf.

Hinter jeder schien ein Instrument zu warten, das ihn willkommen hieß. Er spielte Trompete, Schlagzeug und vor allem Klavier. Doch erst als er während seiner Armeejahre in Deutschland widerwillig den vier Saiten jenes Kolosses begegnete, der den Weg zwischen Idee und Ausführung wie nur wenige Artgenossen versperrt, fand er etwas, das sich selbstverständlich anfühlte.

Der Drummer des Trios, in dem er damals spielte, verscheuchte ihn vom Klavierhocker, nachdem der eigentliche Bassist nicht mehr zur Verfügung stand, und machte ihm damit das Geschenk seines Lebens. Innerhalb kürzester Zeit eroberte sich Peacock autodidaktisch, wofür andere Jahre brauchen, und spielte bald mit Größen der Zeit wie dem österreichischen Saxofonisten Hans Koller oder dem ungarischstämmigen Gitarristen Attila Zoller.

Als er Ende der 50er Jahre in die USA zurückkehrte, war er nicht nur bereit, dem Kontrabass jene melodiöse Beweglichkeit zu geben, die sein Freund Scott LaFaro dem Instrument im Trio des Pianisten Bill Evans in der Geschichte des Jazz wie kein anderer verliehen hatte. Er fand auch Gefallen an den funktionsharmonischen Abrissaktionen, mit denen der Saxofonist Ornette Coleman die Revolution des Free Jazz einleitete.

Jazz von zwei Seiten aus

Seit jener Zeit hat der am 12. Mai 1935 in Burley, Idaho, geborene Gary Peacock den Jazz eigentlich immer von zwei Seiten aus betrachtet. Von der einer klanglichen Delikatesse, die aus Standards immer wieder eine noch ungehörte Wendung herauszaubert; und von der eines spontan improvisierten, energetischen Zugangs. Mit Ersterem exzellierte er als Nachfolger des verstorbenen LaFaro bei Bill Evans, mit Letzterem tat er sich im Trio des Saxofon-Ekstatikers Albert Ayler auf legendären Alben wie „Spiritual Unity“ hervor.

Das Ungewöhnliche war: Je länger er diese vermeintliche Schizophrenie praktizierte, desto besser kommunizierten die beiden Seiten. Was er in den mit abstrakter Sprödigkeit in und um sich kreisenden Trios mit dem Pianisten Paul Bley zu früher Meisterschaft brachte, kam später auch dem virtuosen Glitzern in Keith Jarretts Standards-Trio mit Jack DeJohnette zugute, das ihm zu Weltruhm verhalf.

Gary Peacock verfügte, die Bedürfnisse nach einem soliden Fundament und die Lust auf die melodiöse Eskapade perfekt austarierend, über einen lebendigen sanglichen Ton, den man auf Anhieb erkannte. Wer wie er im blitzschnellen Lagenwechsel das ganze Spektrum dieses schwer zu intonierenden Instruments ausmisst, bei dem sind leichte Unsauberkeiten nicht zu vermeiden.

Zugleich machen sie die unverwechselbare Stimme eines Jazzmusikers aus, und da klingt ein ähnlich wendiger Bassist wie der zehn Jahre jüngere Eddie Gomez eben ganz anders, um von einem konträr gepolten Einfachheitsgenie wie seinem Generationsgenossen Charlie Haden nicht zu reden. Die sich selbst beiseite schiebende Autorität, die Peacock im Dienst der jeweiligen musikalischen Sache anstrebte, war allerdings hart errungen.

Sackgasse halluzinogene Befreiung

Mitte der 1960er Jahre hielt er seinen frühen Erfolg nur noch mit der Flasche aus, und das Versprechen von Timothy Leary, mit Hilfe von LSD eine halluzinogene Befreiung zu erfahren, warf ihn vollends aus der Bahn. In Japan suchte er Zuflucht bei Zen und makrobiotischer Ernährung, stieß auf den exzentrischen Pianisten Masabumi Kikuchi, mit dem er später das in herrlich schwerblütigem Rubato vor sich hin glühende Trio Tethered Moon mit seinem alten Weggefährten, dem Schlagzeuger Paul Motian, gründete. Auch ein 1976 abgeschlossenes Studium der Molekularbiologie entfernte ihn von seiner Berufung. Der Kontrabass wurde zum Fremdkörper.

Die Rückkehr aber war nur eine Frage der Zeit, und neben der Arbeit mit Keith Jarrett entstanden in seiner zweiten Lebenshälfte unvergessliche Aufnahmen mit einem gleichfalls gereiften Paul Bley, mit dem Pianisten Marc Copland, der ihn bis zu seinem letzten Album „Tangents“ (2017) begleitete, sowie mit der Pianistin Marilyn Crispell. Sie kostete mit ihm unter anderem die ganze schmerzliche Melancholie der frühen Kompositionen seiner ersten Frau Annette Peacock aus. Jetzt ist Gary Peacock im Alter von 85 Jahren gestorben.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false