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Kultur: Nach vorn!

Andrzej Wirth stellt seine Jahrhundert-Biografie vor.

Marcel Reich-Ranicki war nicht ganz der Letzte von diesem Schlag. Vom Schlag der Brückenbauer zwischen Warschau und Berlin, zwischen polnischer und deutscher Literatur. Sieben Jahre jünger als er ist sein Freund Andrzej Wirth, der am heutigen Dienstag im Berliner HAU2, im ehemaligen Haus der Schaubühne, seine im Gespräch mit dem Theaterkritiker Thomas Irmer entstandene Autobiografie „Flucht nach vorn“ vorstellt (18 Uhr).

Wirth, ein metropolitaner Geisteskopf von nunmehr 86 Jahren, schwebt durch die Berliner Kulturgesellschaft mit weißem Schal und manchmal roten Schuhen wie ein letzter Dandy. Auf seinen berühmten Hausfesten treten junge Damen gelegentlich in der wohlgehüteten Generalsuniform seines Vaters auf, der im Zweiten Weltkrieg in London der polnischen Exilregierung angehörte. Das Detail freilich zeigt: Andrzej Wirth ist kein Mann der gewöhnlichen Salons. Er hat Sinn fürs Theater, auch für dessen Underground, und für den kosmopolitischen Dialog der Kulturen. Weshalb der jungen Generalin mal eine japanische Butoh-Tänzerin im eigenen Wohnzimmer folgt. Oder die Präsentation einer venezianischen Modemacherin, wenn nicht die Kurz-Lecture einer New Yorker Ästhetikprofessorin.

Der gebürtige Pole ist ein homme à femmes. Wiewohl unter seinen bekanntesten Schülern auch Männer sind, etwa die Regisseure und Autoren René Pollesch, Tim Staffel und Moritz Rinke, neben den Theatermachern von Rimini Protokoll oder der Frauengruppe She She Pop. Wirth nämlich war der Begründer und von 1982–92 Direktor der postpostmodernen und jedenfalls phänomenalen Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen – mit der er in die hessische Welttheaterprovinz auch Gastdozenten wie Marina Abramovic, Robert Wilson, Heiner Müller und George Tabori holte.

Davor hatte er mit seiner Mutter, einer ostpolnischen Adligen, die Nazis und die Sowjets überlebt, hatte als Schüler eines Untergrundgymnasiums mit 17 am Warschauer Aufstand teilgenommen, hat später über Brecht promoviert und zusammen mit Reich-Ranicki Kafkas „Schloss“ übersetzt sowie Grass und Dürrenmatt. Wirth war Redakteur der legendären polnischen Tauwetter-Zeitschrift „Nowa Kultura“, doch nach neuerlichen Vereisungen ging er in den Westen, lehrte in Stanford, New York und auch West-Berlin, wurde Mitglied der Gruppe 47, machte mit seinem Landsmann Jan Kott die moderne polnische Dramatik bekannt, von Witkiewicz bis Mrozek. Für Deutschland entdeckte Wirth den galizischen Dichter Bruno Schulz und schrieb das Erhellendste über den frühen Robert Wilson oder das auratische Theater von Jerzy Grotowski. All das kann man jetzt lesen, aus seinem Mund. Mit einem witzigen Nachwort von Moritz Rinke, der den Meister verehrt, auch ohne ihn ganz verstehen zu können. Peter von Becker

Andrzej Wirth: Flucht nach vorn. Hrsg. Thomas Irmer. Spector Books, Leipzig 2013, 348 Seiten mit Illustrationen, 28 €.

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